Dienstag, 8. Dezember 2015

Wenn der Schrecken sich verkörpert....

Die Anschläge von Paris haben vielen von uns Angst gemacht. Ja, sie haben uns vielleicht sogar einen Moment lang "starr vor Schreck" werden lassen.

"Starr vor Schreck" zu werden, diese Erfahrung haben zahlreiche Menschen mindestens einmal oder mehrfach in ihrem Leben gemacht. Somit wissen die meisten auch, wie es sich anfühlt, wenn der Körper auf einen Schock mit Erstarren reagiert. Doch in der Regel löst sich dieses Einfrieren wieder, wenn die Situation vorbei ist. Wird diese Starre jedoch nicht aufgelöst, dann verharrt der Mensch in einem andauernden Schrecken und glaubt, dass diese bedrohliche Situation immer noch da ist. D.h., das Gehirn findet keinen Ausweg aus der Starre. Ist dies der Fall, verkörpert sich der Schock nicht nur in einer physischen Starre, sondern in veränderten, manchmal zerstörten Nervenverbindungen im Gehirn.

Wie genau sich so etwas auswirkt, lernte ich auf meiner TraumaYoga-Lehrerfortbildung kennen, auf der wir lernten, wie man mit Traumatisierten Yoga macht! Wirklich spannend!! Dort wurde uns auch das Buch von Bessel van der Kolk empfohlen. Ich konnte während der Fortbildung einen Blick ins Buch werfen und habe es mir danach bestellt und mit großer Begeisterung gelesen.

In dem Buch beschäftigt sich Dr. van der Kolk mit solch traumatischen Reaktionen in seinem - in meinem Augen - großartigen Grundlagenwerk „Verkörperter Schrecken“. In diesem Paperbackbuch zeigt der Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School und Leiter des HRI Trauma Centers die Mechanismen der Schockwellen an vielen Beispielen auf und macht mir dadurch noch einmal sehr genau deutlich, was genau während einer traumatischen Erfahrung passiert und wie ihre Folgen aussehen können.

Besonders gefallen hat mir, wie er die neuesten Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Entwicklungspsychopathologie und interpersonaler Neurobiologie zu einer inspirierenden Grundlagenwerk verbunden hat. Die von ihm ausgewählten Beispiele verdeutlichen auf sehr anschauliche Weise, welche Widerstandskraft unser Gehirns besitzt und wie es diese als faszinierende Voraussetzung für die Heilung und Gesundung nutzt.

Der Autor deckt die vielschichtigen Ursachen und verheerenden Folgen von Traumata auf, die ein stark unterschätztes Problem sind: Denn nicht nur Gewaltopfer, von denen es immer mehr gibt, sondern auch Opfer von Unfällen oder familiärem Missbrauch, von Kriegswirren, Naturkatastrophen oder die Vielzahl der traumatisierten Flüchtlinge machen Traumafolgen zu einem sehr akuten Problem. Und wie 9/11 in New York oder das Attentat in Paris im letzten Monat gezeigt hat, werden wohl zukünftig auch immer mehr Menschen mit den Folgen von Anschlägen zu tun haben.

Erstarrung ist nur eine Auswirkung – viel öfter sind neben den gesundheitlichen Auswirkungen, die Unfähigkeit „normale“, liebevolle Beziehungen einzugehen oder soziale Kontakte zu pflegen, die nicht so schnell erkennbaren Folgen. Das Entsetzen verändert die bisherigen Strukturen im Gehirn und verwüstet buchstäblich die Regionen für Empathie, Mitgefühl, Zuneigung und Vertrauen.

Die Erkenntnisse und Lösungen, die Bessel van der Kolk auf knapp 500 Seiten darstellt, zeigen einen fundamentalen Weg auf, uns wieder mit unserer Lebensenergie und unserer Lebensfreude zu verbinden – dank der unglaublichen Fähigkeiten unseres Gehirns. Über Sprache und Erinnern, über Körperwahrnehmung und durch Self-Leadership kann das Gehirn neu vernetzt und geheilt werden.

Beziehungen und Liebe spielen bei dem Weg aus dem Trauma eine entscheidende Rolle – vor allem bei traumatisierten Kindern – genauso wie das Bewusstsein, dass wir alle miteinander vernetzt und verbunden sind: Denn ein Trauma betrifft nicht nur das Opfer, sondern auch sein Umfeld. Ein Buch, das auf für Laien verständlich macht, wie jeder einzelne von uns auf den anderen angewiesen ist und wie wichtig es ist, sich der Realität des Traumas zu stellen.

Dieses Buch ist ungeheuer aufschlußreich, zutiefst empathisch und mitfühlend geschrieben. Es weist nicht nur Therapeuten den Weg zu einer noch humaneren Behandlung Traumatisierter. Es ermöglicht auch Betroffenen eine neue Sicht auf die eigene Situation. Nicht zuletzt vermittelt dieses Buch auch die Hoffnung auf Selbstregulation und Heilung und darauf, den verkörpertern Schrecken aufzulösen.


Autor: Bessel van der Kolk:
Titel: Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann.
Broschiert: 496 Seiten
Verlag: G.P. Probst Verlag, Lichtenau; Auflage: 1 (27. Juli 2015)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3944476131
ISBN-13: 978-3944476131
Preis: 36,- €



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