Als die ersten Ethnologen fremde Kulturen ohne eigene Schrift untersuchten, kamen sie auch mit den Heilern, den sogenannten Schamanen der jeweiligen Ethnie in Kontakt. Voreilig stuften sie diese als Epileptiker ein, da sie sich anscheinend ähnlich verhielten. Gleichsam wie Epileptiker bewegten sich einige Schamanen ruckartig und zitternd, bevor sie auf den Boden fielen und dort scheinbar besinnungslos mehrere Stunden lagen.
Erst viele Jahre später wurde realisiert, dass Schamanen im Gegensatz zu Epileptiker in der Lage sind, sich willentlich in eine Trance zu begeben und diese genauso willentlich wieder verlassen können. Aber es sollte noch viele weiteren Jahre vergehen, bevor die Wissenschaft realisierte, dass Schamanen als Heiler einen wesentlichen Beitrag zur Gesunderhaltung und – Wiederherstellung des Menschen beitragen und dass sie uns tiefe Einblicke in die Facetten des Bewusstseins vermitteln können.
Eine Reise in die andere Welt
Im Vergleich zur westlichen Schulmedizin behandeln Schamanen nicht nur oberflächlich das Symptom, sondern sie sind immer bemüht, die Ursache einer Krankheit herauszufinden. Aus diesem Grund begeben sie sich durch eine Trance in einen veränderten Bewusstseinszustand und reisen in die sogenannte andere Welt. Hier durchqueren sie mal Oberwelten, mal Unterwelt, kommunizieren mit Ahnen, oder mit anderen Wesenheiten um festzustellen, woran es dem Patienten mangelt. Der Weg, den ein Schamane bei einer solchen Behandlung geht, ist nicht immer ungefährlich, da er auf seiner Seelenreise auch Dämonen oder anderen negativen Kräften begegnet kann. Diese können zum Beispiel den verlorengegangen Teil der Seele des Patienten – der als Seelenverlust die mögliche Ursache der Krankheit darstellt - festhalten und nicht ohne Weiteres loslassen wollen. Dadurch kann die Krankenbehandlung manchmal für den Schamanen selbst ein Kampf auf Leben und Tod werden.
Der lange Weg eines Schamanen
Bis ein Schamane als Heiler arbeiten und Oberwelt und Unterwelt reisen kann, muss er einen langen beschwerlichen Weg gehen, der nichts mit der romantisch-verklärten Vorstellung zu tun hat, die viele esoterisch interessierten Menschen im Westen haben. Es ist ein Weg, den viele zukünftige Schamanen scheuen, da sie wissen, dass er viele Entbehrungen mit sich bringt und er auch sehr leidvoll sein kann. Schamanen haben keine freie Wahl, so wie man sich bei uns für den Beruf eines Heilpraktikers entscheiden kann, sondern ein Schamane wird berufen oder bekommt das Amt vererbt - ob er will oder nicht.
Die Vererbung zum Schamamen
Bei der Vererbung zum Schamamen kann es passieren, dass ein Schamane in eine traditionelle Schamanenfamilie hineingeboren wird, um von dem eigenen Vater oder dem eigenen Großvater zu lernen, was er zur Ausübung der schamanischen Tätigkeit benötigt. Dabei zeigt es sich bereits häufig schon bei der Geburt des zukünftigen Schamanen, dass es mit dem Säugling eine besondere Bewandtnis hat. So wurden künftig große Schamanen auch zum Beispiel bereits mit Zähnen geboren, andere hatten ein auffälliges Muttermal. Auch das Sozialverhalten der künftigen Schamanen ist auffällig. Sie wirken im Vergleich zu anderen Kindern des Dorfes von klein auf unausgeglichen und nervös, so als würden sie unter extremer psychischer Spannung stehen. Darüber hinaus neigen sie zu Ohnmachtsanfällen, sind verschlossen, grüblerisch und nachdenklich und gelten als Außenseiter ihrer Gesellschaft.
Die spontane Berufung
Eine weitere Form der Berufung erfolgt spontan, die in der Pubertät durch bestimmte Ereignisse ausgelöst werden kann. Dabei zeigen sich dabei weltweit ähnliche Phänomene: Dem Auserwählten erscheinen zum Beispiel in seinen Träumen die Seelen Verstorbener. Es können die Seelen von verstorbenen Schamanen oder von Geistern sein, die ihm später als Hilfsgeister bei seiner Arbeit zur Seite stehen. Diese Geister erscheinen ihm in Tiergestalt wie zum Beispiel in der Gestalt eines Adlers, einer Eule, eines Bären, einer Schlange oder einer Kröte und fordern ihn eindringlich auf, Schamane zu werden.
Da die meisten zukünftigen Schamanen allerdings wissen, welch großer Verzicht von ihnen als Schamane erwartet wird, wehren sie sich anfangs gegen den Ruf der Geister. Zwar führt ein Schamane nach seiner Initiation einen Beruf aus, wie zum Beispiel den eines Schmiedes, aber ansonsten muss er in der Rolle als Schamane im Vergleich zu den anderen Mitglieder der Gesellschaft, in der er lebt oftmals fasten, sexuelle Enthaltsamkeit üben und bestimmte Diäten einhalten. Die Abwehr zeigt sich zum Beispiel darin, dass ein zukünftiger Schamane die Aufrufe der Geister im Traum ignoriert, selbst wenn diese ihn eindrücklich dazu auffordern. Diese Abwehr kann sehr folgenreich sein und geht mit vielen psychischen und physischen Leiden einher, bei denen Betroffenen nicht nur unverkennbar, sondern auch auf eine ganz spezifische Weise leiden. Dieses Leiden wird als die sogenannte Schamamenkrankheit beschrieben, die sich durch unverkennbaren Symptome äußert. Dazu zählen unter anderem Magenbeschwerden, stechende Kopfschmerzen, Atemnot, Versteifung der Gliedmaßen sowie Hautkrankheiten. Vor allem aber werden die zukünftigen Schamanen von schrecklichen Träumen gequält, die sich auch teilweise tagsüber in entsprechenden Visionen fortsetzen. In diesen Fällen beginnen sie, stöhnend im Schlaf zu wandeln, herumzuirren, zu schreien, zwischendurch Schamanengesänge zu singen, die sie eigentlich nicht kennen können. Nach solchen Anfällen verfallen sie meist wieder in Apathie. Wehrt der Auserwählte sich aber weiterhin, kann es sein, dass er lebenslang mit Wahnsinn geschlagen wird oder schlimmstenfalls sogar auf qualvolle Weise sterben muss. Nimmt ein Auserwählter den Ruf an, verschwinden die qualvollen Leiden innerhalb weniger Tage oder Wochen. Erst jetzt beginnt die Ausbildung des Schamanen, die sogenannte Initiation. Dabei werden sie entweder von alten Schamanen des Stammes oder von Geistern Schritt für Schritt in allem unterwiesen, was sie für ihre spätere Schamanenpraxis benötigen: Techniken, Praktiken, Durchführung von Ritualen, Gesängen, Kenntnisse über Pflanzen, Mythen, Umgang mit psychoaktiven Pflanzen, die er benötigt um in andere Welten, wie zum Beispiel Totenreiche zu reisen. Aber auch hier variieren die Initiationen und sind längst nicht immer so romantisch, wie viele Menschen sich dies vorstellen. Die Prüfungen während der Initiation sind deswegen so extrem, weil sie dazu dienen, das Alltagsego des Schamanen zu lassen. Dann erst kann er sich für die universale, kosmische Wahrnehmung und der spirituellen Verbundenheit aller Existenzen öffnen.
Wenn wir hier im Westen mehr für die Schamanen, ihren Weg zum Heiler sowie für ihre Jahrtausendalten traditionellen Heilweisen öffnen, werden unsere westlichen Glaubenssätze und unser Verständnis von Krankheit und Gesundheit sehr in Frage gestellt und relativiert, aber unser Verständnis für traditionelle Heilweisen sowie für ein facettenreiches Bewusstsein können enorm erweitert werden. Gleichzeitig kann ein großer Respekt für diese Heiler entstehen, die zum Wohl aller Wesen einen Weg gehen, auf dem ihre persönlichen Wünsche und Vorlieben keine Rolle spielen, sondern die mehr oder weniger nur dafür leben, um das körperliche und seelische Wohlergehen des Einzelnen, einer Gruppe oder der Erde zu verbessern und wieder in eine Balance zu bringen, die in unserer heutigen Zeit fehlt.
Und gleichzeitig sollte wir uns immer wieder bewusst werden, wie viele Erfahrungen es braucht, bis ein Schamane als ein solcher tätig ist. Denn wieder mache die Erfahrung, dass Menschen im Westen sich als Schamane berufen fühlen oder Schamanin nennen, ohne das Bewusstsein in ihren vielen Facetten wirklich zu kennen. Dies führt immer wieder zu Retraumisierungen der Patienten, wenn diese unfachmännisch behandelt werden oder der angebliche Schamane den Patienten in einen inneren Raum führt, aber diesen nicht wirklich kennt.
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