Dienstag, 28. Juli 2015

Auf der Suche nach dem passenden Meister

Gerade bin ich über einen Artikel gestolpert, den ich im Jahre 2004 in Yoga aktuell veröffentlicht habe. Damals habe ich viele Leserbriefe darauf erhalten. Meines Erachtens ist er von der Thematik her immer noch sehr aktuell....

Ein Interview mit einem spirituellen Lehrer ist für mich immer wieder eine besondere Begegnung. Die Freude über diese Art von Gespräch ist sehr groß, denn ich genieße es, mit einem solchen Menschen unter vier Augen sprechen zu dürfen.

Die Nähe, die in diesen Momenten entsteht, vermittelt mir dann noch einmal auf eine ganz andere Weise die Ausstrahlung einer spirituellen Lehrerin oder eines Gurus, die oder der im Vergleich zu vielen anderen als spirituell sehr weit entwickelt oder sogar bereits als erwacht gilt.


Neben der Freude schwingt auch immer ein Gefühl von Aufregung mit, wenn ich zu einem Interview komme, denn es ist ja im Vorfeld nie sicher, ob mein Interviewpartner und ich einen Draht zueinander haben. Meistens aber verflüchtigt sich dieses Gefühl sehr schnell, denn die Liebe, Weite und Offenheit, die die meisten Lehrer ausstrahlen, vermitteln mir ein unbeschreibliches Gefühl der Wärme und Liebe und beruhigen mich umgehend.

Anders ging es mir bei Andrew Cohen, einem amerikanischen Guru. Sein Lehrer H.L.Poonja aus Indien hatte ihn beauftragt, im Westen Erleuchtung zu lehren, was er seit 1986 tut. Wir trafen uns in München. Mich interessierte nicht so sehr, was er als Herausgeber der Zeitschrift „Was ist Erleuchtung“ und Autor des Buches „Erleuchtung ist ein Geheimnis“ über die Erleuchtung zu sagen hat, sondern eine Stellungnahme zu dem Buch „Liegestütz zur Erleuchtung – Lehrjahre bei einem amerikanischen Guru“ von André van der Braak. Darin beschreibt van der Braak, der 11 Jahre lang Schüler Cohens war, wie – so der Autor - der anfangs charismatische Andrew Cohen im Verlauf der Jahre immer narzisstischer wurde und bestimmte spirituelle Praktiken von seinen Schülern verlangte, um ihr Ego zu zerstören. So mussten sie – van der Braak zufolge - ihren Kopf kahl rasieren oder 1000 Niederwerfungen machen, stundenlang jeden Tag meditieren, Mantren rezitieren und sich gegenseitig demütigen, um so das Ego für die Erleuchtung zu töten. Eine andere Maßnahme schließlich war dass Cohen monatelang nicht mehr mit einem Schüler sprach.
Bis zu dem Tag, an dem ich das Interview machte, hatte weder Cohen noch seine Gemeinschaft öffentlich zu dem Buch Stellung bezogen. Somit war ich natürlich sehr gespannt, wie er auf Fragen bezüglich des Buches von van der Braak reagieren würde. Auf meine erste Frage: „Was ist Erleuchtung?.“ antwortete Cohen, ob ich nicht eine einfachere Frage hätte. Ich stellte ihm noch zwei, drei Fragen zu seiner persönlichen Geschichte, ging dann aber zu dem Buch von van der Braak über, wodurch die Stimmung schlagartig kühl wurde und Cohen antwortete, dass er sich nicht auf eine öffentliche Debatte über etwas einlassen wolle, was letztendlich keinen Wert hätte. Darüber hinaus wolle er auch nicht auf dieses Spiel „Er hat gesagt..... Sie hat gesagt..... etc.“ eingehen. Ich stellte ihm dann noch einige Fragen zu seiner Theorie bezüglich der Erleuchtung, aber die Stimmung zwischen uns wirkte so unterkühlt, dass ich mich zunehmend unwohl fühlte.

Am Ende eines jeden Interviews stelle ich die Frage: „Wenn Sie drei Wünsche hätten, was wäre diese Wünsche.“ Diese Frage, die von den meisten spirituellen Lehrern unmittelbar und sehr spontan beantwortet wird, gibt mir noch mal mehr Aufschluss über ihre Sicht- und Seinsweise. Oft fassen die Lehrer ihr Anliegen oder ihre Lehre mit der Erfüllung der Wünsche noch einmal zusammen. Als ich Cohen die Frage stellte, überlegte er sehr lange, bis er antwortete: „Dass Kerry Präsident wird.“ Danach schaute er mich an, zog eine Grimasse und meinte „Sie lachen wohl nie!“ Ich fand dieses Interview auch nicht zum Lachen, denn die Kühle, die Cohen auf mich ausstrahlte, nachdem ich ihn auf van der Braak angesprochen hatte, wirkte auf mich äußerst unangenehm. Einige Tage später ging bei der Redaktion von Yoga-aktuell im Namen von Andrew Cohen ein Anruf ein. Er wolle nicht, dass sein Interview abgedruckt wird, mit der Begründung, ich wäre wohl zu sehr von André van der Braak beeinflusst worden. Dies war nicht der Fall, da ich zum Glück in der Lage bin, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Was mich im Nachhinein nachhaltig beschäftigte, war die Tatsache, dass Hunderte von Menschen wie van der Braak einem Mann wie Andrew Cohen über einen so langen Zeitraum folgen und nach Aussage des Holländers sich so demütigen lassen können. Dieses Phänomen, dass spirituell Suchende ihre ganze Eigenverantwortung abgeben und sich ganz in die Hände eines charismatischen Menschen ergeben, gibt es immer wieder. Bis ein Suchender sich dann wieder auf die eigene Urteilsfähigkeit zurückbesinnt, kann es schon mal einige Jahre dauern. Im Fall van der Braak waren es genau 11 Jahre, bis er erkannte, dass ihm das Verhalten von Andrew Cohen eher schadet, als ihn auf den spirituellen Weg zur Erleuchtung zu führen.

Wie aber weiß man, ob man einen charismatischen Narzissten vor sich hat oder es mit einem vollkommen Erwachten zu tun hat? Diese Frage ist leider nicht leicht zu beantworten, da es für einen spirituellen Lehrer weder eine Normvorschrift gibt, wie bei einem Computer, noch ein Gütesiegel, welches man sich von einem studierten Akademiker oder diplomierten Ayurveda-Ärzten vorzeigen lassen kann. Und gerade in der heutigen Zeit, in der es eine große Vielfalt von Angeboten gibt, die dem Menschen verheißen, ihre psychische und spirituelle Entwicklung zu fördern, findet man ein kaum mehr zu durchschauendes Angebot an Seminaren, spirituell arbeitenden Therapeuten, Gurus, Erwachten – und leider auch an fanatischen und narzisstischen Persönlichkeiten. Hier die Spreu vom Weizen zu trennen, ist nicht für alle Menschen einfach, besonders dann nicht, wenn sie sich auf der Suche nach einer größeren Wahrheit, ihrem tieferen Selbst, Gotterkenntnis und Sinnfindung befinden und dabei mit mangelnder Kritikfähigkeit und mangelndem Selbstbewusstsein ausgestattet sind.

Wie aber soll man bei der Auswahl eines Lehrers vorgehen? Und woran erkennt man, ob ein Mensch wirklich erwacht ist, oder ob er nur über ein Charisma verfügt? Schließlich heißt es, dass nur ein Buddha einen Buddha erkennt! Wie lassen sich die Exzesse eines ausbeuterischen falschen Meisters vom oft unkonventionellen Verhalten eines echten Gurus unterscheiden, der das gewöhnliche Bewusstsein bereits transzendiert hat und Dinge sieht und weiß, die andere weder verstehen, noch wissen? Mit Abstand betrachtet würde man sagen, dass es reicht, seinen gesunden Menschenverstand einzusetzen und diesen Lehrer kritisch und mit gewisser Distanz zu betrachten. Sobald dieser Guru oder die spirituelle Lehrerin allerdings Wünsche und Projektionen auslöst, die eigentlich zur Verarbeitung der eigenen Elternbeziehung gehören und der Betroffene nicht erkennt, dass er in eine solche kindliche Projektion hineingerutscht ist, wird es schwierig. Und gleichermaßen stellt sich die Frage, wie man Anzeichen für pathologische Entwicklungen innerhalb einer Gruppe oder bei einer Führungspersönlichkeiten erkennen und dann vermeiden kann, sich in eine Beziehung mit einer Gruppe oder dieser Person zu verwickeln.

Allgemeingültige Antworten auf diese Fragen zu finden, ist wohl genauso schwierig, wie einem Menschen eine unmittelbare Erfahrung der Einheit zu vermitteln, bzw. ihn dort hinzuführen. Man kann ihm immer nur die Richtung weisen, um im Bild des Zen zu sprechen, man kann ihm immer nur mit dem Finger zum Mond weisen. Ein spirituell Suchender kann sich im Vorfeld immer nur selbstkritisch und ehrlich einige Fragen beantworten, wie zum Beispiel: Was zieht mich zu dieser Person hin? Fühle ich mich von seiner Macht, von ihrem Auftreten ist das gewollt, dass hier einmal sein und ihr verwendet wird, grammatikalisch ist es falsch, von seiner Klugheit oder von ihren Ideen angezogen? Ist es eine primär physische Anziehung, emotionale Erregung, intellektuelle Anregung oder eine intuitive Resonanz, die mich zu ihm zieht? Warum vertraue ich ihm oder ihr mehr, als mir selbst? Was gebe ich auf? Vermittelt diese Person einen inneren Frieden oder wirkt er eher hypnotisierend auf mich? Welche Struktur herrscht in der Gemeinschaft vor? Lässt der Meister es zu, dass um seine Gunst gebuhlt wird? Wie geht er oder sie mit Konkurrenz innerhalb seiner Gemeinschaft um? Müssen die Mitglieder gegen ihre eigenen ethischen Vorstellungen handeln, um ihre Loyalität ihm oder ihr gegenüber zu beweisen?

Alles, was man tun kann, ist zu versuchen, sich diesen Fragen so offen wie möglich zu stellen, und die eigene Urteilsfähigkeit und das eigene kritische Bewusstsein gegenüber spirituellen Pfaden und Lehrern zu fördern, die den Anspruch erheben, einen Menschen zu einem erweiterten Bewusstsein oder zur Erleuchtung führen zu wollen.

So wie ein Goldschmied sein Gold zuerst prüft,
indem er es schmelzt, schneidet und reibt,
akzeptieren Weise meine Lehren erst nach vollständiger Prüfung,
nicht nur aus Ehrerbietung mir gegenüber.
Gautama Buddha


Lehrer- und Meistertypen

Auch wenn es keinen Ideallehrer gibt, so hat Ken Wilber eine Art Klassifizierung von „spiritueller Meister“ und „Lehrer“ vorgenommen, die einen Suchenden zumindest darin unterstützen kann, das Gegenüber genauer einzuschätzen, um zu wissen, mit wem man es zu tun hat.

1. Der falsche Meister oder spirituelle Lehrer: Dieser Typus besitzt lediglich ein gewöhnliches Bewusstsein. Er gibt jedoch vor, über ein transzendentales Bewusstsein oder über eine Verbindung zum Göttlichen zu verfügen.

2. Der Meister oder Lehrer, der bestimmte Bereiche der Transzendenz erreicht hat: Ausgelöst durch diese Transformation ist er zu außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt und hat persönliche Eigenschaften entwickelt, die eindeutig über das gewöhnliche, menschliche Bewusstsein hinausgehen. Dieser Typus ist noch nicht von Egoismus und persönlichem Begehren frei. Das kann ihn für Selbsttäuschung anfällig machen, sowie dafür, sich als etwas darzustellen, das er oder sie nicht ist, wobei auch dies auf Selbsttäuschung oder auf bewusster Täuschung anderer beruhen kann.

3. Der wahrhaft fortgeschrittene spirituelle Meister oder Lehrer: Durch tiefe spirituelle Erfahrungen über die Natur der Dinge und die Einheit allen Seins ist er über den Punkt hinausgelangt, eigene Interessen zu verfolgen. Er verfällt auch nicht mehr der Selbsttäuschung, und sein Geist schließt den Geist anderer mit ein, obwohl er seine Einheit mit dem unendlichen Sein noch nicht völlig realisiert hat.

4. Der vollständig verwirklichte oder vollkommen erleuchtete Meister: Er ist sich auf allen Bewusstseinsebenen seiner Einheit mit dem unendlichen Sein und allen Wesen und Dingen gewahr. Auch weiß er, dass er mit der wahren Natur von Materie, Energie und Geist identisch ist.

Für einen spirituell Suchenenden ist es natürlich außerordentlich schwierig, genau zwischen den vier Typen unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit wird durch die verschiedenen Arten von Hilfe und Umgehensweise mit den Schülern erschwert. Das bedeutet letztendlich, dass ein spirituell Suchender keine wirklich zu 100 Prozent richtige Entscheidung treffen kann, denn dies würde voraussetzen, dass er sich auf der gleichen Bewusstseinsebene befinden würde, wie der Lehrer selbst. Deshalb bleibt die Wahl eines spirituellen Lehrers wohl immer eine subjektive Entscheidung. Aber auch hier hängt die subjektive Entscheidung immer vom eigenen Bewusstseinsstand ab. Beeinflusst werden kann die Entscheidung durch eine naive Gutgläubigkeit, dem Bedürfnis nach Selbsttäuschung; der Angewohnheit, andere Menschen höher einzustufen als sich selbst, der Gewohnheit, Verantwortung abzugeben bis hin zur reflektierten Überlegung oder einer erhellenden Intuition.

Aus diesem Grund tut man als spirituell Suchender gut daran, das eigene Leben mit einer gewissen Selbstverantwortung in die Hand zu nehmen und das eigene Ich zu stärken, um sich dann mit achtsamer Hingabe statt mit geistloser Unterwerfung in die Hände eines spirituellen Lehrers zu begeben. Zum Glück gibt es hierzu eine große Anzahl an Seminaren, die einen Suchenden darin unterstützen, zuerst einmal das eigene Ich zu stärken.

An dieser Stelle herrscht aber leider ein großes Missverständnis: Viele spirituell Suchende sind begeistert von der Idee, ihr Ich zu transzendieren, um Erleuchtung zu erlangen. Aber zuerst muss es ein gesundes und stabiles Ich geben, um es zu transformieren. Ist das Ich hingegen instabil, kann es zu einer so genannten Inflation des Ichs kommen. Menschen, bei denen dies passiert, halten sich oftmals durch die spirituelle Erfahrung, die sie gemacht haben, für etwas Besseres. Sie glauben, „weiter“ als andere spirituell Suchende zu sein und sind oft von einem Hochmut beseelt, der im Zen als „der Gestank der Erleuchtung“ bezeichnet wird. Hier ist es besonders wichtig, dass ein Lehrer die Dynamik der Inflation erkennt und weiß, was sie nährt und wie sie sich auflösen lässt. Befindet sich das Ich eines Lehrers jedoch selbst noch in diesem Zustand, steht sein eigenes, eigentlich schwaches, aber durch die spirituelle Erfahrung aufgeblähtes Ich im Mittelpunkt. Und es wird ihm nur darum gehen, eine hörige Schülerschaft um sich zu sammeln, die ihn bewundert, statt autarke spirituell Suchende zur Erleuchtung zu begleiten. In einem solchen Fall führt nicht ein spiritueller Meister seine Schüler, sondern ein Schwacher hat noch Schwächere gefunden, die ihn bewundern.

Es bleibt aber auch zu bedenken, dass ein Mensch immer ein Mensch bleiben wird, egal, wie sehr er sein Bewusstsein transformiert hat. Er wird immer jemand bleiben, der bestimmte Charakterzüge aufweist, ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt und sich durch bestimmte Verhaltensweise kennzeichnet. Darüber hinaus wäre es auch sicherlich falsch zu erwarten, dass ein spiritueller Meister oder eine bestimmte Lehre alle Menschen gleichermaßen ansprechen wird. Dies ist wohl genauso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass es einen Psychotherapeuten gibt, der alle Menschen gleichermaßen anspricht. Schließlich muss auch hier die Chemie zwischen zwei Menschen stimmen. Genauso wenig wie ein Musiker alle Menschen gleichermaßen berührt. Aber trotzdem gibt es bestimmte Kriterien, auf die man bei der Auswahl achten sollte. So ist das wohl alles entscheidende Kriterium zur Beurteilung eines Meisters, ob er in der Lage ist, seine Schüler aus der Selbstbezogenheit aufzuwecken und sie dazu zu bringen, ihr umfassenderes, universelleres Sein zu erfahren und vor allen Dingen, es in den Alltag zu integrieren. Dabei arbeiten die verschiedenen Meister natürlich auf unterschiedlichste Art und Weise, doch authentische Lehrer werden niemals fördern, dass der Schüler nur bemüht ist, es dem Lehrer recht zu machen. Stattdessen sollte sein Augenmerk darauf liegen, den Schüler dahin zu bringen, weit gehend in der Lage zu sein, sich den Erfordernissen des Lebens in jedem Augenblick zu stellen – bei der Arbeit, in einer Beziehung usw. – statt sich vom Alltag zurückzuziehen. Genauso wenig sollte es das Anliegen eines Lehrers sein, seine Schüler vom Leben fernzuhalten. Erst dann ist es auch echte Hingabe dem Lehrer gegenüber, denn erst durch die Hinwendung zum Leben und die Bemühung, die durch den Lehrer vermittelten Einsichten in den Alltag zu integrieren, werden die Alltagssituationen zur spirituellen Übung, und der Schüler kommt an den Punkt, dass er dem Leben genauso offen und transparent begegnen kann wie dem Lehrer. Dann braucht der Schüler auch nicht im Schutz der Gemeinschaft des Gurus zu leben und zu sagen: Wir, die Ahnung von der Erleuchtung haben, sind hier – die Dummen und Unwissenden stehen dort. Sondern dann wird jeder Mensch, der ihm begegnet, zum spirituellen Übungsfeld und zum spirituellen Lehrer. Schließlich heißt es nicht umsonst: Wenn man seine Elternprojektionen bei einem spirituellen Meister bewältigt hat, erkennt man, dass jeder Mensch für uns ein Guru auf dem eigenen Weg zur Erleuchtung wird.

Literaturempfehlung

Autor: Doris Iding:
Titel: Vertraue dem Buddha in Dir.
Verlag: Windpferd Verlag. 2015













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