Donnerstag, 12. März 2015

Rumirahs letzte Reise


Rumirah und die unsterbliche Seele

Im April vor drei Jahren begleitete ich meine Freundin Rumirah beim Sterben. Dabei war gerade sie die lebenshungrigste Frau, die mir bis dahin begegnet war. Immer fröhlich. Immer offen. Immer auffallend gekleidet.

An dem Tag, an dem sie mir von ihrer Diagnose erzählte, kam mir ein Satz aus den alten yogischen Schriften in den Sinn: „Jedem Menschen steht eine gewisse Anzahl an Atemzügen zur Verfügung. Ist diese verbraucht, so stirbt er.“ Die damals 47jährige wusste um diese Aussage.

In den nächsten Jahren wirkte Rumirah allerdings noch atemloser als bisher auf mich: Sie liebte die Männer, das Reisen und das Leben intensiver als bisher. Dabei scheute sie aber auch nicht davor zurück, ihre Liebhaber damit zu konfrontieren, dass auch brustamputierte Frauen berührt, geliebt und begehrt werden wollen. Sie reiste von einem Schamanenkongress zum nächsten, besuchte Heiler in Brasilien, Indien und Hawaii. Wir beiden hatten jedoch nur sporadisch Kontakt. Kurz vor ihrem Tod erzählte sie mir, dass sie sich bewusst nur mit Menschen umgeben hatte, die keine Angst vor Brustkrebs hatten. Ich gehörte nicht dazu. Ihre Diagnose hatte mich wieder daran erinnert, dass quasi jede Frau an Brustkrebs erkranken und sterben kann.

Der Wandel

Vor einem Jahr schilderte Rumirah mir von einer Begegnung mit einem indischen Guru. Mit seiner Hilfe hatte sie erfahren, dass es etwas in ihr gibt, was unberührt bleibt von ihrer Krebserkrankung. Etwas, dass auch dann noch weiterlebt, wenn sie ihren letzten Atemzug getan hat: ihre unsterbliche Seele. In vielen spirituellen Traditionen ist es das Ziel, damit in Kontakt zu kommen. Im Hinduismus bezeichnet man es als Atman, im Buddhismus als die Natur des Geistes. In all den Jahren, in denen wir uns kannten, hatten wir oft über dieses Mysterium gesprochen. Jede von uns hatte viele Seminare besucht, um diesen Bereich zu finden und darin zu ruhen. Nun, am Ende ihres Lebens war Rumirah dort angekommen. Darum beneidete ich sie maßlos. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Freundschaft und ihrer Krankheit nahm ich sie anders wahr. Sie wirkte innerlich frei und strahlte eine gewisse Ruhe aus. Jetzt konnte ich in ihrer Gegenwart entspannen – und einen tiefen Seufzer der Entlastung tun.

Letzten Winter wollte Rumirah noch einmal im sonnigen, warmen Indien verbringen. Mit Metastasen. Mit Bauchwasser. Mit einer Reiserücktrittsversicherung. Bereits nach drei Wochen kehrte sie zurück und wurde direkt in ein Krankenhaus eingeliefert. Danach lebte sie für einige Wochen bei Freunden, da sie ihre eigene Wohnung untervermietet hatte. Als ich sie hier zum ersten Mal besuchte, hatte ich große Angst vor der Begegnung. Ich rechnete damit, sie am Boden zerstört und hadernd anzutreffen. Allerdings war sie bester Laune und ich in Folge dessen erleichtert. Sie ruhte nach wie vor in ihrer unsterblichen Seele und war mit sich und der Welt in Frieden. Jedes Mal, wenn ich sie in diesen Wochen sah, wurde mir klar, wie weit weg ich von meinem eigenen Seelenfrieden war und wie sehr ich gefangen war in den Plänen und Sorgen des Alltags und was für einen qualitativen Unterschied es macht, bei sich selbst angekommen zu sein.

Begegnungen an einem besonderen Ort

Anfang Februar zog sie wieder in ihre eigene Wohnung, weil sie bewusst alle möglichen Vorbereitungen für ihre letzte Reise treffen wollte. Eine Ärztin aus der Palivativstation betreute sie mit Schmerzmitteln und pumpte regelmäßig ihr Bauchwasser ab. In diesen Tagen besuchte ich sie regelmäßig, um mit ihr über ihr Leben und ihren neugewonnen Seelenfrieden zu sprechen. Es waren wunderschöne und erfüllende Begegnungen, ohne Trauer. Bei diesen Gesprächen musste ich immer wieder an den persischen Dichter Dschalad ad-Din al-Rumi denken, der einmal gesagt hatte: „Jenseits von richtig und falsch, von Du und ich, gibt es einen Ort: dort werden wir uns begegnen.“ Genau an diesem Ort trafen wir uns. Durch ihre Präsenz gelang es mir, mich mit einzuschwingen in diesen unendlich weiten und offenen Raum des Seins. Von diesem Ort aus wurde es Rumirah auch immer bewusster, dass sie nach ihrem physischen Tod nur die Ebene wechseln würde: vom grobstofflichen hin zum feinstofflichen.


Bewusste Atemzüge

An jenen klirrendkalten Wintertagen, an denen ich bei ihr war, lag sie bereits nur noch im Bett. Eines Abends erzählte sie mir, dass sie beim Sterben gerne von Menschen umgeben wäre, die um die Unsterblichkeit der Seele wussten. Dieses Mal gehörte ich dazu. Ich willigte ein, sie so lange zu begleiten, bis sie ihren letzten Atemzug verbraucht hatte. Dies schien nicht mehr lange zu dauern. Offensichtlich ließ ihre Kraft jeden Tag mehr und mehr nach. Trotzdem war ich beeindruckt von ihrer außerordentlichen geistigen Präsenz. Die Klarheit, mit der sie ihren Umzug ins Hospiz vorbereitete, sich mit den Mitarbeitern des Beerdigungsinstituts unterhielt und alle ungeklärten Beziehungen in Ordnung brachte, faszinierte mich zutiefst. Etwas in ihr war hellwach und das, obwohl sie für alles jetzt doppelt oder dreifach so lange brauchte. Selbst auf den wenigen Metern ins Badezimmer musste sie mehrfach eine Pause einlegen, und viele Male bewusst ein- und ausatmen, bevor sie ein paar weitere Schritte gehen konnte. Jeder Atemzug erforderte nun eine enorme Anstrengung. Immer wieder fragten wir uns lachend, wie viele Atemzüge sie wohl noch hat. Wir wussten es nicht. Ihre körperliche Erschöpfung führte aber dazu, dass wir an manchen Tagen lange Momente im Schweigen verbrachten und meine Hände auf ihrem Bauch ruhten, der durch das Wasser vollkommen aufgebläht war. Dann teilten wir einfach die Stille und schwangen uns ein in einen gemeinsamen Atem- und Seelenraum. Er war sanft und absichtslos. Hier fiel plötzlich so viel weg: unsere eigene Geschichte, überflüssige Worte und unsere Masken, hinter denen wir uns im Alltag unbewusst so oft versteckt hatten. In jenen Wochen erhielt Rumirah auch immer wieder Besuch von einer Atemtherapeutin aus der Palliativstation, die sie darin unterstützte, sich mehr dem Ausatem und der Atempause zwischen Aus- und Einatmen hinzugeben. Loslassen. Geschehen lassen. Offen zu sein für das, was ist. Und sei es der letzte Atemzug.

Die letzte Reise

Ende März kam Rumirah ins Hospiz. Mittlerweile war der Frühling gekommen. Die Natur atmete auf. Rumirahs Atem wurde immer schwerer. Die Gespräche kürzer. Die Momente, in denen wir in Stille saßen und ich ihre Hand hielt, länger. Am 1. April feierten 25 Freunde mit ihr auf der Dachterrasse des Hospizes ihre Geburt und ihren Tod zugleich. Der Tod hatte ihr diesen unvergesslichen Tag noch geschenkt. Ihr Körper hat sich noch ein letztes Mal aufgebäumt und ihr Kraft gegeben, um mit uns zusammen zu sein. Ich war zutiefst berührt, aber traurig war ich nicht. Jedes Mal, wenn ich in ihre Augen schaute, glaubte ich auf den Urgrund ihrer Seele schauen zu können und fand mich selbst in einem Gefühl des tiefen Friedens wieder. Ein paar Tage später atmete sie ein letztes Mal aus.

Ihre Abschiedsfeier wurde zu einem unvergesslichem Fest: ihr Sarg war offen, sie trug ein rotes Kleid und badete in einem Meer aus roten und orangefarbenen Rosen. Alle Anwesenden waren ihrem Wunsch gefolgt und trugen bunte Kleidung. Bis auf ihre Mutter. Sie trug schwarz. Zwei Stunden lang sangen wir indianische Heilungslieder, hawaiianische Übergangsgesänge und indische Mantren. Es war für alle ein unvergessliches Ereignis. Getragen von Rumirahs Liebe zum Leben. Auch hier war ich nicht traurig. Viel zu präsent wirkte sie für mich.

Seit Rumirah gestorben ist, habe ich bereits viele Male ein- und ausgeatmet. Mal mehr, mal weniger bewusst. Oft habe ich mich danach gefragt, wie viele Atemzüge mir wohl noch zur Verfügung stehen. Genauso oft habe ich an Rumirah gedacht und versucht, wieder in Kontakt mit ihr zu kommen. Aber je länger sie tot ist, desto schwerer fällt es mir. Schnell verblassen auch manche Erinnerungen an die krebskranke Frau, aber niemals an die Momente, in denen wir uns an jenem Ort begegnet sind, an dem es kein Du und kein Ich mehr gibt, sondern nur die unsterbliche Seele.

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