Alle Weisheitslehren und alle Religionen umkreisen in unendlichen Variationen die Themen Leben, Tod und Wiedergeburt und ihre Beziehung zueinander – in welcher Form auch immer.
Ob unter den Überschrift »Seelenwanderung«, »Auferstehung«, »Paradies«, »Unsterblichkeit der Seele« oder »Nirvana« – stets wird der Tod als Variante des Lebens und das Sterben als Akt der Verwandlung verstanden. Während sich andere spirituelle Traditionen bewusst mit dem Thema Tod beschäftigen und es hier eine Vielzahl von Techniken gibt, in denen sich der Praktizierende bewusst mit dem Tod auseinandersetzt, wird das Thema Tod in unseren Breitengraden jedoch immer noch tabuisiert und als ein vom Leben getrenntes Phänomen betrachtet. Integrieren wir den Tod hingegen in unser Leben und heißen ihn willkommen, so können wir tiefe Heilung erfahren, so lautet die These des 83jährigen Willigis Jäger, der als Benediktiner und Zen-Meister sowohl von der christlichen Mystik als auch vom östlichen Zen inspiriert wurde und zugleich weit über die traditionellen Vorstellungen der Religionen hinausgeht. Seine Vision einer integralen Spiritualität vereint den großen Erfahrungsschatz der östlichen und westlichen Weisheit in sich und bezieht zugleich neueste Erkenntnisse der Wissenschaften mit ein.
In Ihren Vorträgen und Büchern geht es immer wieder um die Vermittlung einer neuen Sicht auf das Sterben und den Tod. Was genau möchten Sie den Menschen für eine neue Sichtweise auf ein so großes Tabu-Thema wie den Tod vermitteln?
Willigis Jäger: Wir sind viel mehr, als wir meinen zu sein, und wir sind etwas ganz anderes, als wir meinen zu sein. Wir sind nur das Instrument, auf dem ein unsichtbarer und unbegreifbarer Spieler spielt. Wir sind auch mehr als unser Unbewusstes. Wir sind immer eingeschlossen in das EINE.
Meister Eckhart sagt daher: »Wenn ich in den Grund, in den Boden, in den Strom und in die Quelle der Gottheit komme, so fragt mich niemand, woher ich komme oder wo ich gewesen sei. Dort hat mich niemand vermisst. Wir können aus dem Göttlichen Urprinzip nicht herausfallen.
Was stirbt Ihrer Meinung nach?
W. J.: Es stirbt nur die Hülle, in der sich das Unbegreifliche in meinem Menschsein ausdrückt. Wir sind nicht das, was wir meinen zu sein. Dieses Haus ICH existiert nicht. Es stirbt das vordergründige Personale. Sicher geht ein Energiebündel weiter. Denn in diesem Universum kann keine Energie verloren gehen. Was daraus wird, kann niemand sagen, auch der nicht, der meint, es zu wissen.
Und was lebt weiter?
W. J.: Das Leben. Es kann nicht sterben. Noch einmal, wir sind etwas ganz anderes, als wir meinen zu sein. Unser Ich verdeckt uns, was wir wirklich sind. Die berühmte Geschichte vom Jüngling, der das Antlitz der Göttin sehen wollte, sagt uns das bildhaft. Wer den Schleier von ihrem Bild hebt, unter dem sie verborgen ist, und das Antlitz der Göttin sieht, muss sterben. Der Jüngling wollte lieber sterben, als ewig von dieser Sehnsucht geplagt zu sein, das Antlitz der Göttin zu sehen und hob den Schleier. Und was sah er? Er sah sich selbst, sein wahres Antlitz, sein göttliches Leben. Und das ist weder geboren, noch kann es sterben.
Haben Sie in Hinblick auf Ihren eigenen Tod manchmal das Gefühl, noch so viel vor zu haben, dass Sie befürchten, nicht alles zu schaffen?
W. J.: Nein! – Es kommt im Leben nicht auf Leistung an, sondern auf Sein. Niemand wird mich einmal fragen, was ich geleistet habe. Entscheidend ist, dass ich wirklich Mensch war mit allen Möglichkeiten, die mir gegeben wurden. Ganz Mensch zu sein, zu dieser Zeit, an diesem Ort auf diesem Staubkorn am Rand des Weltalls, das ist der einzige Grund, warum ich hier bin. Christlich gesagt: Gott möchte in mir Mensch sein zu dieser Zeit in dieser Gestalt und an diesem Ort.
Ich weiß nicht, ob mein Eindruck stimmt, aber ich habe das Gefühl, dass viele ältere Menschen in Ihre Seminare kommen. Wenn ja, wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
W. J.: In Indien teilt man das Leben in drei Phasen ein: Entwicklung und Ausbildung, in Beruf und Lebensaufgabe und in eine Zeit, in der sich der Mensch zurücknehmen und nach Innen gehe darf, um den Sinn des Lebens tiefer zu begreifen. Ich habe gerade im Gilgamesch-Epos gelesen. Es wurde 2700 Jahr vor Christus geschrieben. Gilgamesch, den Herrscher von Mesopotamien, trieb damals schon die Frage um: Woher komme ich? Wer bin ich? Wo gehe ich hin? Diese Frage stellt sich jeder Mensch, spätestens wenn er den Zenit seines Lebens überschritten hat. Wir helfen den Menschen auf dem Benediktushof dabei, eine Antwort in sich selbst zu finden. Es kommen mehr und mehr auch junge Menschen. Diese Frage scheint den Menschen in unseren Tagen schon sehr viel früher einzuholen.
Liegt es auch daran, dass ältere Menschen dem Tod offensichtlich ein Stück näher sind und sich dann Rat und Unterstützung von Ihnen holen möchten?
W. J.: Die Menschen kommen mit der Frage: Was ist nach dem Tod. Während die traditionellen Religionen eine innere Befreiung von der Welt durch eine Loslösung von allem Diesseitigen zu erreichen versuchen, und das Eigentlich in ein Jenseits verlegen, um eine unmittelbare Schau des Absoluten, des Göttlichen, der Leere und des Unbekannten zu erreichen, versucht eine mystische Spiritualität, das Hier und Jetzt zum Mittelpunkt zu machen. Hier und jetzt drückt sich das Unbeschreibbare aus, in genau dieser Form, zu dieser Zeit, an diesem Ort. Es geht nicht darum aus der Welt zu scheiden und in ein Verlöschen oder eine neue Wiedergeburt oder in einem Himmel einzugehen, um die Seligkeit zu erreichen. Es geht um die Erkenntnis, dass wir und alles durchdrungen sind von dieser »Urwirklichkeit«. Es gibt keine Zeit. Es geht darum, diesen Tanz des evolutionären Geschehens mitzutanzen. Man tanzt nicht, um möglichst schnell zu Ende zu kommen, man tanzt um des Tanzes willen. Tanzschritt des »Tänzers Gott« zu sein und alles Handeln als spirituell durchdrungen zu erfahren, ist das Ziel. Das gilt auch für ein eventuelles Leben nach dem Tod. – In der Mystik gibt es nur das Jetzt. Das gilt zu jedem Zeitpunkt, gleichviel in welcher Existenz ich lebe. Nur im Jetzt kann ich die Eingrenzung des Personalen überschreiten.
Es gibt Menschen, die behaupten: Entweder man hat Angst vor dem Tod oder man hat keine. Was raten Sie Menschen, die Angst vor dem Tod haben?
W. J.: Das Ich des Menschen wird wohl immer Angst haben. Unser Menschsein hängt ja an ihm. Aber es gibt eine Tiefenschicht in uns, die voll Vertrauen loslassen kann. Die spirituellen Wege, die wir hier lehren, führen in eine Seinserfahrung, die eine große Gewissheit und Sicherheit gibt, dass dieses Universum von einem universalen Sinn getragen ist, in den ich eingebettet bin.
Sie haben einmal einen Vortrag zu dem Thema gehalten »Tod ist Leben.« Was genau unter einem solch widersprüchlichem Titel verstanden?
W. J.: Auch der Prozess des Sterbens ist das Leben dieser Urwirklichkeit. Auch der Tsunami, das Erdbeben und der Weltuntergang sind durchdrungen von diesem Leben. Nicht der Mensch stirbt. Was wir Gott nennen, stirbt als diese Menschen, die umkommen. Er (ES) offenbart sich auch als Tsunami und als Erdbeben. Einen Gott außerhalb würde ich als Sadist beschuldigen. Er (ES) selber stirbt als diese Form, als diese Menschen, aber das Leben geht weiter.
Sie schreiben in Ihrem Buch »Das Leben endet nie«, dass es Ihnen in erster Linie um eine neue Sicht von der Welt, von dem Menschen, owie vom Körper, von der Psyche und von dem Bewusstsein und als Folge davon um eine ganz neue Einstellung zu Gesundheit, Krankheit, Leiden, Sterben und Tod und damit auch eine neue Einstellung zur Heilung geht. Können Sie diese neue Sicht in ein paar Sätzen zusammenfassen?
W. J.: Es gibt keinen Tod. Das Leben kann nicht enden. Nur die Form, in der sich das Leben offenbart, kann untergehen. Auch als Krankheit, Leid und Tod offenbart es sich. Alles Scheitern ist auch Neubeginn. Es schließt sich nicht ein Tor, wenn wir sterben, es öffnet sich ein Tor. Das bedeutet für mich die Auferstehung Jesu. Wir gehen in eine neue Seinsweise. Niemand kann sich vorstellen, was diese Seinsweise sein wird. Wir versuchen immer wieder aus der Raupe den Schmetterling zu erklären.
Momentan befinden wir uns in einer sehr misslichen Lage. Immer mehr Menschen erleiden schwere Schicksalsschläge, verlieren durch Terroranschläge oder durch die wachsenden Naturkatastrophen einen geliebten Menschen. Kann ein Mensch durch die These »Tod ist Leben« Trost und damit Heilung seines Schmerzes finden? Sollte es dann nicht eher heißen: »Tod ist Leiden«?
W. J.: Das folgende ist nicht leicht zu vermitteln. Ich muss wieder sagen: Für mich gibt es keinen Gott außerhalb. Was ich Gott nenne, vollzieht sich als das, was ist. Es ist wie der Ozen, der immer neue Wellen wirft, aber immer der Gleiche bleibt. Wenn die Welle zurückfällt in den Ozean, fällt ein Bündel von Energien zurück. Was aus diesem individuellen Energiebündel wird, kann ich offen lassen. Es formt sich immer nur dieses göttliche Urelement in einer neuen Form aus. »Wiedergeboren wird immer nur der Herr«, sagt die Gitta. Wie tröstlich: Was wir Gott nennen, kommt wieder in einer neuen Form. Warum Angst haben?
Sie sagen immer wieder: Der Tod ist die Vollendung unserer Geburt. Wir fügen uns nicht dem Tod, wenn wir sterben, wir fügen uns ein in den Fortgang des Lebens, das kein Verweilen kennt. Was genau meinen Sie mit dieser Aussage?
W. J.: Das ewige Leben kann man mit einer Symphonie vergleichen. Die Musik ist das Wichtige, nicht die Note. Jetzt bin ich die Musik in dieser einmaligen, individuellen Note und habe die Symphonie an dieser Stelle klingen zu lassen. Die Musik geht weiter, wenn ich sterbe. Die Form bleibt zurück. Zu erfahren, dass ich Musik, Klang, göttliches Leben bin, das weitergeht, auch wenn die Form zerbricht, ist die Überwindung des Todes.
Im Hinduismus und im Yoga glaubt man an Widergeburt. Gerade ist Yoga ja hier im Westen sehr beliebt, und entsprechend häufig hört man, wie die Menschen über ihre Wiedergeburten sprechen, als würde es sich um eine Erfahrung des letzten Jahres handeln. Es werden auch gerade von vielen Menschen Rückführungsseminare besuchen. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
W. J.: Shakyamuni Buddha sprach nicht von Wiedergeburt. Er hat sich geweigert, etwas über eine Zeit nach dem Tod zu sagen. Alle Erlebnisse und Vorstellungen von Wiedergeburt kommen aus dem begrenzten Ich. Das zeitlose Bewusstsein ist nicht nach unseren Vorstellungen organisiert. Wir leiden an einer unglaublichen Arroganz und wollen nicht zugeben, dass Wirklichkeit etwas ganz anderes ist, als uns Sinne und Verstand ständig vorspielen, obwohl uns auch die Neurologie sagt, es gibt kein ich. Wir sind nicht nur nicht Herr in diesem Haus ICH, es gibt dieses Haus überhaupt nicht. Das Ich ist eine Eingrenzung. In dieser Einschränkung sprechen wir auch über Wiedergeburt. Dass Ich erträgt es nicht, dass es sterben muss, ja dass es gar nicht existiert. Aber genau dieses Sterben, sagen uns alle wirklichen spirituellen Wege, ist die Voraussetzung für ein Erwachen zur Wirklichkeit. Es ist eine schlimme Kränkung für unser Ich. »Stirb auf deinem Kissen«. (Zen) – »Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen« (Jesus).
Heißt das, das Sie nicht an Wiedergeburt glauben?
W. J.: Hinter dieser Ansicht steckt mir zu viel Moral. Wir meinen, wir könnten das evolutionäre Geschehen durch »gute und schlechte Taten« beeinflussen. Das ist mir zu menschlich gedacht und letztlich eine Form von Egoismus. Milliarden von Jahren gab es unsere Spezies nicht. Niemand hat uns vermisst. Irgendwann wird es uns wieder nicht geben, niemand wird uns vermissen. Das zeitlose Leben wird weitergehen, aber nicht diese Form. Der Ozean wird weiter bestehen, aber nicht die Welle. Sünde ist Mangel an Erkenntnis.
Und was halten Sie vom Karma-Gedanken?
W. J.: Alle unsere Taten und Werke sind letztlich Energie. Diese hat einen Einfluss auf das ganze Universum. Es kann nichts verloren gehen, sagt uns die Naturwissenschaft. Die Frage ist wiederum, muss sich die Energie wieder in einer menschlichen Form ausdrücken? Es gibt in diesem ungeheuren Universum Milliarden andere Möglichkeiten. Wir sind vernarrt in diese unsere menschliche Form. Und noch etwas. Die Vorstellung, dass Taten, die wir als Menschen schlecht nennen, sich als »schlecht« wieder ausformen, halte ich für eine Arroganz unserer Ichstruktur. Diese Evolution richtet sich nicht nach böse und gut.
Wie stehen Sie zur Sterbehilfe?
W. J.: Ich möchte nicht mit allen Raffinessen künstlich am Leben erhalten werden, sondern sterben dürfen, wenn mein Körper seinen Endzustand erreicht hat. Jesus hat einmal gesagt:« Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Ich gehe, euch eine zu bereiten.« Darf ein Mensch sagen:
Dieser Abschnitt des Lebens Gottes ist zu Ende, ich darf jetzt in die neue verheißene Existenz gehen?
Können Sie dem Leser noch abschließend einen Rat geben, wir er die scheinbaren Gegensätze von Leben und Tod aufheben kann und zwar nicht über den Verstand, sondern aus der Tiefe seines Herzens, seines Seins?
W. J.: Wer zu seinem wahren Wesen durchbricht, erkennt, dass es keinen Tod gibt. Es kommt die Zeit, in der wir unseren Tod feiern werden wie unsere Geburt, weil wir unser wahres Leben erfahren, das nicht sterben kann. »Du musst wiedergeboren werden«, sagt Jesus zu Nikodemus. Du musst dieses Dein göttliches Leben erkennen, das sich in dieser jetzigen Form manifestiert. Dann verliert der Tod nicht nur seinen Schrecken, du erfährst das Neue Unbegreifliche, das auf dich wartet. Die spirituellen Wege helfen uns, das eigene, göttliche Wesen zu erfahren. Geht den Weg nach Innen!
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