Müssen war gestern.......
Zu sich kommen. Freiheit schmecken. Die Natur erfahren. Gott
begegnen. Das alles erlebte Hape Kerkeling als er vor einigen Jahren dem
Showbusiness den Rücken kehrte. Als Wanderer tauchte er dann auf dem Jakobsweg wieder
auf und fand hier wieder zu neuen Kräfte. Jahre später konnten wir seine
Erfahrungen nachlesen in seinem Buch: „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf
dem Jakobsweg“. Mit seiner Entscheidung, mal alles hinter sich zu lassen, traf der
Entertainer wohl 2006 den Nerv der Zeit: 103 Wochen lang blieb sein Buch auf
dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. In dem Buch beschreibt er, wie er den
alten Pilgerweg in Spanien nutzte, um wieder zu sich selbst zu finden, nachdem
er sich in der Arbeit verloren hatte.
Auch der Bestsellerautor Paulo Coelho beschreibt die
Erfahrungen, die er auf dem gleichen Weg machte. In seinem ersten Buch, „Auf
dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela “, erzählt
er von Abenteuern, spirituellen Prüfungen und Strapazen, die den erwarten, der
sich einlässt. Wer sich dem Weg hingibt, wird berührt. Berührt von der unsagbaren
Schönheit der Natur. Geküsst von der Magie des Augenblicks. Überrascht von etwas,
was Größer ist. Größer als das, was wir mit unserem kleinen Verstand begreifen
können. Und möglicherweise begegnet uns etwas, was in uns selbst verborgen
liegt: unserem Wesenskern, unserer Einzigartigkeit. Etwas, das häufig in der Kindheit
oder Jugend von den Erwartungen und Vorstellungen der Eltern,
Erziehungsberechtigten, der Gesellschaft überschüttet wurde.
Den Wenn-Dann-Geist entlarven
Auch in mir entbrannte irgendwann der Wunsch, ebenfalls eine
solche Pilgerreise zu unternehmen. Bevor ich allerdings zum ersten Mal meinen
Wunsch umsetzte, Richtung Santiago zu gehen, vergingen viele Jahre. Der
„Wenn-Dann-Geist“ stellte sich mir in den Weg. Kennen Sie ihn? Vielleicht hält
er Sie bislang auch davon ab, sich auf die Socken zu machen. Dieser
Wenn-Dann-Geist geht so: „Wenn ich heute Abend nach der Arbeit nach Hause
komme, gehe ich schon einmal eine Stunde, um mich langsam einzulaufen für die
Wanderung.“ Sind wir dann abends zu Hause, sind Sie möglicherweise müde. Dann meldet
sich der Wenn-Dann-Geist und sagt: „Ach, trink lieber ein Bier und mach am
Wochenende eine gescheite Wanderung. Wenn du Sontag ausgeschlafen bist
und den ganzen Tag Zeit hast, dann lässt es sich sowieso viel besser wandern.“
Am Wochenende melden sich unerwartet Ihre Freunde und laden zum Sie zu einem Fest
ein. Dann sagt der Wenn-Dann-Geist: „Nach dem Lockdown ist es viel wichtiger,
Freunde zu treffen, als allein wandern zu gehen. Wenn ich in zwei Wochen Urlaub
habe, gehe ich jeden Tag wandern, um mich so auf den Pilgerweg vorzubereiten!“.
Sollte Ihnen diese Stimme bekannt vorkommen, möchte ich Ihnen gerne einen
Vorschlag machen: Wie wär’s, wenn Sie den Wenn-Dann-Geist umwandeln in den
Wenn-nicht-jetzt-wann-dann-Geist!
Zurück zum Jakobsweg. Als ich meinen Wenn-Dann-Geist endlich
überwinden wollte, gab es jedoch bereits so viele Wanderer auf dem Weg, dass mir
die Lust vergangen war, in Spanien zu pilgern: Der Jakobsweg war zu einem
überbevölkerten Volkswanderweg geworden.
Der Weg ist das Ziel
Während das Ziel des Jakobswegs feststeht, ist der
Startpunkt des Jakobswegs variabel. Allein in Deutschland gibt es 30
Jakobswege. Auf vielen von ihnen kann man sehr besinnlich und im ursprünglichen
Sinne des Wortes pilgern. Einer davon beginnt mitten in München auf dem
Jakobsplatz.
Es muss also nicht immer eine vier- oder fünfwöchige
Pilgerwanderung a la Kerkeling sein, um sich auf den Weg zu machen. Schließlich
beginnt jede Reise mit einem Schritt. Und manchmal reichen auch ein paar Tage,
um wieder mit unserem eigenen Herzen in Kontakt zu kommen. Sollten Sie also
keine Zeit, kein Geld oder keine Lust haben, den ganzen spanischen Weg zu
gehen, so können Sie auch hier im schönen Bayern ein paar Tage auf den Spuren Jakobs
wandeln. Ein paar Tipps im Gepäck können Sie darin unterstützen, dass eine mehrtägige
Wanderung Sie nicht nur über den ein oder anderen Bergrücken trägt, sondern Sie
auch mit Ihrer eigenen Tiefe in Kontakt bringt.
Achtsamkeitstipps für Pilgerwege
Eine Absicht festlegen
Fragen Sie sich, warum Sie einen solchen Weg gehen möchten?
Ist es die Antwort auf eine innere Frage, die Sie finden
möchten?
Befinden Sie sich in einer Krise und erhoffen Sie sich eine
Lösung für diese Krise?
Haben Sie den Bezug zu sich selbst verloren? Möchten Sie
sich wieder finden oder möglicherweise ganz neu begegnen?
Haben Sie das Bedürfnis, neue Erfahrungen zu machen?
Erhoffen Sie sich, Gott zu begegnen oder etwas zu finden,
was nicht in Worte zu fassen ist?
Wenn Sie eine Absicht festgelegt haben, ist es gut, sich im
Verlauf des Pilgerns immer wieder daran zu erinnern, warum Sie sich auf den Weg
gemacht haben. Sollten Sie zum Beispiel das Bedürfnis haben, einmal ein paar
Tage ganz für sich selbst allein zu sein, ist es gut darauf zu achten, sich
nicht mit anderen Pilgern zusammenzuschließen und in einem Grüppchen zu
wandern. Genauso sinnvoll ist es bei einem solchen Entschluss, dass Mobiltelefon
nur in Notfällen zu benutzen oder die Gespräche mit Ihren Liebsten zu
reduzieren, damit Sie sich einmal ganz auf sich selbst konzentrieren können.
Schweigend gehen
Sollten Sie lieber mit Ihrem Partner, Freundinnen oder
anderen Weggefährten pilgern, dann empfiehlt es sich, im Vorfeld festzulegen, ob
und wie viel Sie auf dem Weg schweigen möchten. Wenn wir schweigen, kommen wir
uns selbst näher und können die Stimme in uns hören, die oft nicht zu Wort
kommt, aber viele Inspirationen für uns bereithalten kann. Sich abends in der
Ruhe über die gemachten inneren Erfahrungen auszutauschen, kann wiederum sehr
bereichernd und inspirierend sein.
Quartiere vorreservieren
Wenn Sie mehrere Tage oder Wochen pilgern wollen, lohnt es
sich, Übernachtungen im Vorfeld zu buchen. Erfahrungsgemäß ist es entspannender,
wenn man den Abend in Ruhe genießen kann, anstatt sich um weitere Unterkünfte
kümmern zu müssen.
Achtsamkeit für den Augenblick entwickeln
Achtsam zu sein bedeutet, möglichst wertfrei im Hier und
Jetzt zu sein. Damit gemeint ist, sich vollkommen auf die sinnlichen
Erfahrungen einzulassen, die Ihnen auf dem Weg begegnen werden. Wenn man über
mehrere Stunden alleine läuft und schweigt, kann es nur allzu leicht passieren,
sich in Geschichten über die Vergangenheit und Zukunft zu verlieren. Hier ist
Achtsamkeit gefragt, dies zu bemerken, um sich immer wieder in den
gegenwärtigen Moment zurückzuholen. Ein besonders gutes Mittel hierzu ist das
Wahrnehmen der eigenen Füße. Schritt für Schritt den Untergrund spüren, auf dem
man geht. Aber auch ein paar offene Ohren und offene Augen bringen Sie
unmittelbar in den gegenwärtigen Moment und zeigen Ihnen, mit welchen Wundern
die Natur aufwartet. Sei es der Gesang eines Vogels, die Struktur eines Baumes
oder das Panorama einer Landschaft, die sich plötzlich eröffnen kann.
Inneres Gepäck reduzieren
Machen Sie sich entbehrlich, wenn Sie wandern gehen. Sorgen
Sie dafür, dass Ihre Familie, Kollegen oder Kunden gut ohne Sie klarkommen,
während Sie auf dem Pilgerweg unterwegs sind. Versuchen Sie auch, Ihre
Alltagssorgen zu Hause zu lassen. Das macht Sie frei. Je weniger Sie mit sich
herumtragen, desto intensiver werden Sie erleben, was Ihnen der Weg zeigen
möchte.
Achten Sie auf Zeichen
Wenn wir mit offenen Augen und offenen Ohren pilgern, können
uns Zeichen begegnen, die uns auch im übertragenen Sinne etwas sagen wollen.
Vielleicht sehen Sie – je nachdem wo Sie wandern – immer wieder einen Adler oder
einen anderen großen Vogel am Himmel. Vielleicht möchte dieser Sie einladen,
etwas aus der Metaebene zu betrachten. Vielleicht begegnen Ihnen aber auch
Inschriften oder Symbole, die Ihnen etwas sagen wollen. Möglicherweise begegnet
Ihnen auch ein Mensch, der Sie inspiriert oder Ihnen eine neue Sichtweise auf
Ihre Absicht ermöglicht.
Gehen Sie mit Freude
Machen Sie aus Ihrem Unternehmen keinen Zwang. Manchmal tun
die Füße einfach weh oder der Weg führt mehrere Kilometer an einer befahrenen
Straße entlang. Dann darf man auch schon mal den nächsten Bus nehmen oder per
Anhalter das nächste Ziel anvisieren. Es geht nicht darum, das Ziel auf Biegen
und Brechen zu erreichen, sondern eher darum, sich selbst mitfühlend und
wohlwollend zu begegnen. Müssen war gestern. Freude ist heute angesagt.
Schließlich ist das Leben zu kurz, um sich selbst immer wieder unnötige Steine
in den Weg zu legen.
Weitere Informationen:
Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Piper
Verlag, 2006, 11 EURO