Donnerstag, 27. Mai 2021

 

Das Glück der kleinen Dinge liegt für mich darin, uns selbst immer mehr zu entwickeln, damit wir zu unserem wahren Wesen vordringen. „Der Schlüssel zur Selbst-Entfaltung“ zeigt dir auf, wie du einen Weg aus dem Leid findest. Geschrieben wurde er von Florian Palzinsky.

Der Schlüssel zur Selbst‐Entfaltung   

Es gibt fünf Punkte, die ausschlaggebend dafür sein können, ob wir ein Ziel irgendwann einmal erreichen, oder ob wir unser Vorhaben schon vorher abbrechen bzw. es im Sand verlaufen lassen. Auch wenn ich diese essenziellen Stützen einst von dem indischen Yogalehrer Aadil Palkhivala kennen lernte, sind sie auf unzählige Bereiche des Lebens praktisch anwendbar.

 1) Sehnsucht   2) Wille   3) Anleitung   4) Praxis   5) Geduld 

Um sich auf einen langen, mühsamen und undurchsichtigen Weg zu machen, ist etwas Not‐wendig, dass jeder von uns tagtäglich mehr oder weniger erfährt: nämlich die Erfahrung von Unzufriedenheit und Leid. ‚In a nutshell‘ hat der Buddha einmal seine Lehre so definiert:

„Ich lehre nur zwei Dinge: Leid (dukha) und den Weg, der aus dem Leid führt.“ 

Die Ursache für jegliches Leiden ist Anhaftung (upādāna) und Begehren (tanhā), d.h. der Versuch, den unberechenbaren Lebensstrom unter Kontrolle zu bekommen, weg vom Unangenehmen und hin zum Angenehmen. Die Ursache ist die illusorische Identifikation (maya) mit unserem begrenzten Menschsein in einer unbeständigen Welt. 

Es gibt einige wenige weise Menschen, die nicht erst mit dem Kopf gegen die Wand fahren oder brutal am Boden der weltlichen Realität aufschlagen müssen. Sie begreifen schon vorher, dass Leben immer lebensgefährlich ist, niemand Krankheit und Altern entkommen kann, und alle sinnlichen Freuden bedingt und beschränkt sind. 

Eigenschaften für ein zufriedeneres Leben

Da die meisten von uns leider nicht mit dieser transzendierenden Erkenntnisfähigkeit gesegnet sind, können wir uns zumindest mit Hilfe dieser Eigenschaften einem zufriedenen Leben herantasten: 

1) Sehnsucht
Nicht jeder, der leidet, will auch unbedingt das Unglück oder dessen Ursache loswerden. Denn das Ego kann sich dadurch auf eigenartige Weise definieren, in Selbstmitleid versinken oder darin sogar den Sinn des Lebens darin sehen. Wenn aber Leid unerträglich wird, dann entsteht ein notgedrungener Wunsch nach einer Existenz ohne Schmerz, Angst, Trauer, Wut, Verzweiflung oder Depression. Doch diese Sehnsucht bedeutet noch lange nicht, dass man auch eine Ahnung hat, wie man in stürmischen Zeiten einen friedlichen Hafen erreichen kann.   

2) Der Wille
… gibt der unklaren Sehnsucht Kraft und Richtung. Wer wünscht sich nicht, hie und da einen Zustand wie Übergewicht oder eine Gewohnheit wie Rauchen zu ändern? Wenn sich aber nicht genug Unzufriedenheit oder sogar Wut aufgestaut hat, wird die transformierende Kraft eines zielgerichteten Willens fehlen. Jedes Vorhaben, das Disziplin und Ausdauer braucht, wird dann zu einer bloßen Tagträumerei, die keiner Alltagsrealität standhält.   

Nicht nur im Buddhismus ist die Macht des Entschlusses ein wichtiger Faktor zur Selbstentfaltung:

„In dem Augenblick, indem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte. Was immer Du kannst, beginne es. Kühnheit trägt Genius, Macht und Magie. Beginne jetzt." William Hutchison Murray

3) Anleitung
Wenn einmal die inneren und äußeren Fühler nach Problem‐Lösungen ausgestreckt sind, dann nehmen wir uns und die Welt mit einer besonderen Aufmerksamkeit wahr. Phänomene und Situationen, die wir mit einem trägen (tamas) oder unruhigen (rajas) Geist nicht beachten, können plötzlich zu Augenöffnern, Wegweisern und Brücken zum Glück werden. Als der Prinzensohn Siddhartha – der künftige Buddha Gautama ‐ zum ersten Mal heimlich den hedonistischen Käfig seines väterlichen Palastes verließ, begegnete er vier sogenannten „Himmelsboten“: einem Kranken, einem Alten und einem Toten. Jeder von ihnen zeigte ihm einen bis dahin unbekannten Aspekt des Lebens auf. Als er dann dem vierten „Boten“, einem Wandermönch begegnete, spiegelte dieser sein wahres Dharma (Lebenssinn) wider. Daraufhin ließ er seine Familie und seine weltlichen Pflichten hinter sich, um das zu finden, was nicht der Krankheit, dem Alter und dem Tod unterworfen ist: Nirwana, die bedingungslose Befreiung.

Die wenigsten Suchenden haben das Glück, gleich am Anfang ihres Weges einem Lehrer, einer Meisterin oder einer Lehre zu begegnen, die sie genau dort abholen und weiterführen, wo sie gerade in ihrem Leben stehen und stecken. Manche spirituellen Anweisungen passen für eine gewisse Zeit, aber irgendwann entwickelt man sich weiter und das einst Stimmige wird überflüssig oder sogar hinderlich. Wie eine Schlange, die ihre alte Haut abstreift, oder ein Kind, das irgendwann die Lust am Sandkasten‐Spielen verloren hat.

Ich verbrachte die ersten zweieinhalb Jahre meines Mönchslebens im abgelegenen Nordosten von Thailand mit einem buddhistischen Meister, den alle als Erleuchteten verehrten. Anfänglich war ich davon ebenfalls überzeugt und machte bei diesem religiösen Gehabe fromm mit. Als aber mein kritischer Hausverstand irgendwann dagegen Einspruch erhob, packte ich meine wenigen Sachen und suchte mein spirituelles Glück woanders. Natürlich kann man manchmal schon beim Lesen oder Hören von bestimmten Anweisungen intuitiv spüren, dass sich etwas unstimmig anfühlt. Ein guter Gradmesser kann auch sein, wenn man spirituelle Lehrer und „Heilsverkünder“ mit einem offenen und kritischen Auge unter die Lupe nimmt: Wie sattvisch ist tatsächlich ihr Verhalten und ihre Ausstrahlung, oder wie stark sind diese von Gier, Hass und Verblendung geprägt?  

4) Praxis
Von einer spirituellen Praxis kann man erst dann wirklich sprechen, wenn man sie über einen längeren Zeitraum beibehält, denn Regelmäßigkeit ist oft der transformierende Faktor – nicht nur bei der Entfaltung von spirituellen Qualitäten, sondern auch bei allen Künsten und in weltlichen und alltäglichen Handfertigkeiten. Wenn man mit einer bestimmten Praxisform anfänglich nicht gleich klar kommt oder mit Widerständen reagiert, heißt das noch lange nicht, dass sie falsch ist. Manchmal muss man erst längere Zeit üben, damit etwas in Fluss kommt und um herausfinden zu können, ob wir dadurch liebevoller, durchlässiger und bewusster werden, oder vielleicht sogar irritierter, enger und achtloser. Diesen Realitätscheck kann kein*e Lehrer*in und keine Tradition für uns übernehmen, denn es gibt keine Praxis, die immer für alle passend ist.

Hermann Hesse beschreibt den transformierenden Pfad in einer ganz besonders poetischen Weise in dem Gedicht „Stufen“:
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, 
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. 
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, 
An keinem wie an einer Heimat hängen, 
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, 
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.“


4) Geduld
Es kann sein, dass die notwendige Sehnsucht da ist, der befeuernde Wille, die richtigen Anweisungen und die effektive Umsetzung in die Praxis ... und trotzdem kommen wir kurz vor der Ziellinie zum Stehen, nur weil die Geduld nicht ausreichend vorhanden ist.

Franz Kafka sagte einmal: "Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück“.

Geduld und Vertrauen dürfen aber nicht auf Kosten einer feinfühligen und realistischen Einschätzung gehen. Es kann ein harter Moment am spirituellen Weg sein, wenn man sich nach Jahren der überzeugten Praxis irgendwann doch eingestehen muss, dass alle Bemühungen trotz ‚blood, sweat & tears‘ schlussendlich nicht viel gebracht haben. Aber was sind schon ein paar Jahre auf der langen Reise zu uns selbst, die wir vielleicht schon viele Leben vorher begonnen hat und vielleicht auch noch viele weitere Transformationen weitergehen werden. Keine Praxis wird je ganz umsonst sein, denn wir können immer etwas dazulernen, und sei es nur mehr Vertrauen oder neue Einsichten. Spiritualität ist nicht immer logisch nachvollziehbar, sondern von Paradoxen durchwachsen.

So fordert beispielsweise Anthony de Mello: „Der Drang nach Veränderung ist der Feind der Liebe. Meint nicht, euch selbst verändern zu müssen: nehmt euch an und liebt euch so wie ihr seid […] dann werden Veränderungen auf wunderbare Weise von selbst eintreten – zu ihrer eigenen Zeit. Gebt euch dem Strom des Lebens hin … frei und unbeschwert von Gepäck!“

Aus der yogischen Perspektive soll ich und die Welt so annehmen, wie ich und sie sich gerade präsentieren und uns den undurchschaubaren Kräften mit Respekt und Gelassenheit hingeben (Bhakti-Yoga). Auf der anderen Seite werden selbstloses Agieren (Karma‐Yoga) oder spezifische körperliche und mentale Übungen (Hatha‐Yoga) empfohlen. Manchmal braucht es aber einfach nur ein Loslassen der dualistischen Sichtweise von Subjekt und Objekt, von richtig und falsch. Dann erkennen ich – wie nach einem Traum, dass ich nicht eines von unzähligen anderen Individuen in der Welt bin, sondern sich das ganze Universum in mir befindet (Jnana‐Yoga).


von Florian Palzinsky www.yogaundmeditation.at

 

 

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