Dienstag, 12. November 2019

Mitgefühl – mit uns selbst und anderen Wie wir lernen, liebevoller mit uns umzugehen
























Als ich vor einigen Wochen in Kassel auf einen Zug wartete, ertönte eine Durchsage am Bahnsteig: „Der ICE nach München hat Verspätung wegen Personenschaden.“ Ein Geschäftsmann neben mir zückte unmittelbar sein Handy, wählte eine Nummer und fluchte laut: „Guten Morgen, Frau Maier. Da hat sich anscheinend wieder ein Idiot vor den Zug geworfen. Ich melde mich, sobald ich hier weg komme.“ Ich schaute mich auf dem vollen Bahnsteig um und konnte auch in Gesichtern verschiedener anderer Reisender offensichtlichen Unmut sehen. Eine Dame neben mir war sehr verärgert, schaute mich an und schüttelte missbilligend ihren Kopf. „Jetzt bekomme ich meinen Anschlußzug nicht mehr und muss 2 Stunden warten.“. Es war kalt und regnerisch. Auch ich reagierte verärgert. Hatte ich mich doch schon so sehr auf eine Tasse heißen Tee im Zugrestaurant gefreut.
Nachdem der erste Ärger verflogen war, gingen meinen Gedanken voller Empathie zu dem Menschen, der die Verspätung verursacht hatte. Wie immer, wenn ich von einem möglichen Suizid hörte, machte sich Betroffenheit in mir breit. Ich stellte mir vor, wie unendlich groß das eigene Leid sein muss, um seinem eigenen Leben bewusst ein Ende zu setzen. Und wie schrecklich muss eine solche Situation für den Zugfahrer und die Polizisten sein, die unwillkürlich da hineingezogen werden. Ganz zu schweigen von dem nahen Umfeld eines solchen Menschen, das oftmals noch viele Jahre danach von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen geplagt wird. Wie betroffen waren z.B. alle vom Selbstmord des Torwarts Robert Enke im Jahre 2009 und wie schuldig fühlte sich der ganze Fußballbetrieb damals.
Vielleicht hatte die Verspätung aber auch andere Gründe: ein Herzinfarkt oder ein Kollaps. Auch hier dachte ich voller Mitgefühl an den Betroffenen und wünschte demjenigen, dass nichts wirklich Tragisches passiert war. Durch das Mitgefühl verschwand der Groll und wandelte sich in Dankbarkeit dafür, dass es mir selbst gut ging.

Wer gestresst ist, hat weniger Mitgefühl
Im Zugrestaurant auf dem Weg nach München traf ich auf den Mann, der seinem Ärger auf dem Bahngleis lauthals Ausdruck verliehen hatte. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass diese Verspätung ihm möglicherweise einen großen finanziellen Schaden bringen würde. Der Mann stand offensichtlich sehr unter Druck. Jetzt verstand ich seine emotionale Kälte, als er auf dem Bahngleis von der Verspätung gehört hatte. Der Stress hatte ihn dazu veranlasst, so zu reagieren.
Dass Stress unser Mitgefühl reduziert, ist noch nicht allzu lange bekannt. Forscher versuchen bereits lange zu verstehen, was Menschen zu Empathie verlasst oder dazu, das sie gefühlsmäßig überhaupt nicht tangiert sind, wenn einem Mitmenschen etwas passiert. Nun haben sie hierzu wichtige Erkenntnisse gewonnen. Jeffrey Mogil, ein Mitarbeiter der McGill University in Montreal führte einen Versuch durch, bei dem er bis zu 26 Studenten mehrfach eine halbe Minute in Eiswasser fallen ließ. Mal waren die Testpersonen bei dem Versuch alleine, ein anderes Mal stand ihnen ein Freund oder eine fremde Person gegenüber, die ebenfalls in das Wasser fasste. Im Anschluss daran mussten die Teilnehmer mitteilen, wie stark sie die Schmerzen in dem Test empfunden haben. Das Ergebnis erstaunte das Forschungsteam: In der Gegenwart eines Fremden empfanden sie keine Schmerzen. In der Gegenwart eines Freundes nahm das eigene Schmerzempfinden hingegen deutlich zu. Die Aussage „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ traf hier offensichtlich zu. Es war offensichtlich, dass große Empathie zwischen zwei Menschen herrscht, wenn sie sich nahe sind. Was aber verhindert, dass wir Fremden gegenüber kein Mitgefühl empfinden?

Stressabbau fördert Mitgefühl
Die Forscher hatten eine Ahnung. Aus früheren Untersuchungen war ihnen bekannt, dass die Gegenwart eines Fremden zur Ausschüttung von mehr Stresshormonen führt, als wenn wir uns unter Freunden befinden. Daraufhin ließen sie noch einmal Studenten, die sich nicht kannten, in Eiswasser fallen. Einige der Teilnehmer hatten jedoch vorher ein Mittel bekommen, dass die Stressreaktion im Körper verhindert, die andere Gruppe hatte ein Placebo eingenommen. Die Annahme der Wissenschaftler wurde bestätigt: Durch die Unterdrückung der Stresshormone im Körper fühlten die Testpersonen auch in der Nähe von fremden Menschen stärkere Schmerzen. Ihre Mimik und Gestik machte deutlich, dass ihr Mitgefühl für das Gegenüber gestiegen war. Kurz vorher hatte es Untersuchungen mit Mäusen gegeben, deren Stressreaktion unterdrückt worden war und zum gleichen Ergebnis geführt hatte. Ein anderer Versuch zeigte, dass Tiere, die gestresst sind, weniger Mitgefühl gegenüber befreundeten Tieren empfinden. Mogil und sein Team kamen zu dem Schluss, dass Stress, genauer gesagt sozialer Stress, der in der Nähe zu einem Fremden entsteht, dazu führt, dass wir weniger Mitgefühl empfinden.
Selbstmitgefühl statt Selbstkritik
Sozialer Stress wird in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren sehr geschürt. Kein Wunder also, dass Mitgefühl bei uns nicht besonders ausgeprägt ist. Das Leistungsprinzip „Höher-besser-weiter-als-die-Anderen“ wird hingegen gefördert, sodass wir automatisch unter sozialem Stress stehen und die Entwicklung von Mitgefühl für uns selbst und andere gebremst wird.
Anstatt uns selbst Mitgefühl, Trost oder Fürsorge zu geben, wenn wir nicht alles hundertprozentig machen, sind wir selbst häufig unser größter Feind und verurteilen uns. Viel zu oft stellen wir zu hohe Anspruche an uns selbst und gehen hart ins Gericht, wenn wir nicht erfüllen, was wir von uns selbst fordern. Deshalb rät die Psychologin Kristin Neff liebevoller zu uns selbst zu sein und uns selbst immer wieder zu fragen, warum wir so hart zu uns sind. Untersuchungen zeigen nämlich, dass Kinder, die mit sehr kritischen Eltern aufwachsen, oft die Stimmen der Eltern verinnerlichen und sich in Folge dessen selbst kritisieren. Manchmal klingt der sogenannte innere Kritiker dann wie jemand, den wir aus unserer Kindheit kennen.
Ein weiterer Mechanismus, der hier mit am Werk ist und dazu führt, dass wir selbst unsere größten Kritiker sind, hängt mit unserem Gehirn zusammen. Unser Organismus ist evolutionär so eingerichtet, uns vor Gefahren zu schützen und unser Überleben zu sichern. Gefahren von uns abzuwenden, ist die oberste Priorität. Schmerzen, egal ob emotional oder körperlich, sind ein starkes Warnsignal. Aus diesem Grund reagieren Körper und Geist gleichermaßen mit Abneigung auf alles, was uns zu bedrohen scheint. Wenn uns zum Beispiel in der Arbeit ein Fehler unterlaufen ist, ist der erste Reflex, dass wir mit uns selbst in eine Konflikt geraten. Ein Teil von uns schämt sich dafür und will sich verstecken, ein andere ist wütend und will sich rechtfertigen, ein anderer Teil ist verängstigt, weil der sich darüber sorgt, was passieren wird. Ein solch innerer Konflikt führt dazu, dass wir verzweifelt sind und uns zerrissen fühlen, weil unser Gehirn in erster Linie auf „Überleben“ angelegt und nicht auf „Glücklichsein“. Um zu überleben, brauchen wir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der wir eine enge Bindung pflegen und in der wir für unseren Beitrag gewertschätzt werden. Deshalb reagieren wir normalerweise hochempfindlich für jegliches Verhalten, dass uns in den Augen der anderen als unattraktiv oder minderwertig erscheinen lassen könnte. Da solche Fehler zur sozialen Abgrenzung führen könnten, bekämpfen wir sie oft in uns selbst. Wir werten uns selbst ab oder greifen uns an, in der Hoffnung, dass wir uns dadurch verbessern. Wir reagieren also unbewusst aus Angst vor Ablehnung. Kirstin Neff sieht in eben dieser Angst einen wesentlichen Grund für die massive Selbstkritik. Wir denken, wir müssten alles richtig machen, um zur Gesellschaft dazuzugehören. Allerdings wendet sich nach Neff diese unerfüllbare Anstrengung früher oder später gegen uns selbst. Sie kann zu Depressionen führen, unser Selbstvertrauen mindern oder zur Folge haben, dass unsere Angst vor dem Scheitern immer größer werden.
Die Motivationskraft für Selbstmitgefühl hingegen kommt aus der Liebe. Wenn wir uns selbst lieben und fürsorglich mit uns selbst umgehen, wollen und können wir unser volles Potential entfalten. Der Antrieb entsteht aus einem Gefühl der Fürsorge. Wir wollen gesund und glücklich sein. Selbstmitgefühl hat darüber hinaus auch zur Folge, dass wir uns selbst klarer sehen können. Wenn ich weiß, dass ich mein Bestes gebe, gleichzeitig wie jeder andere Mensch Schwächen habe und an mir arbeite, brauche ich nicht an einem übertriebenen schlechten Selbstbild festhalten, der uns selbst als Versager sieht. Wir können uns viel mehr verbinden mit der unterstützenden und nährenden Qualität der Güte, einem fruchtbaren Boden für Wachstum und Veränderung.


Selbstmitgefühl statt Selbstmitleid
Darauf zu achten ist jedoch, dass wir nicht in Selbstmitleid verfallen. Das hat mit Selbstmitgefühl nichts zu tun. Wenn wir uns selbst ständig bemitleiden, fühlen wir uns als Opfer, alleine und unverstanden mit unserer Not, kreisen immer mehr um unsere Leidensgeschichte und verstricken uns darin. Durch Selbstmitgefühl hingegen entwickeln wir die Kraft, unser Leid anzuerkennen und uns daran zu erinnern, dass alle Menschen Fehler machen und jeder Mensch im Verlaufe seines Lebens schwierige Zeiten durchlebt, Schicksalsschläge erleidet, Verluste erfährt oder mit Krankheiten konfrontiert wird. Dieses Wissen kann uns darin unterstützen, nicht zu verbittern oder in einer Opferrolle zu verharren. Stattdessen können wir uns selbst Verständnis schenken und einen Raum zu schaffen für Trost und eine hilfreiche und liebevollere Umgehensweise mit den Herausforderungen des Lebens. Mit Selbstmitgefühl auf belastende Situationen zu reagieren bedeutet deshalb aber nicht, Schwierigkeiten mit Zuckerguss übertünchen zu wollen. Ganz im Gegenteil: Selbstmitgefühl braucht Mut! Es braucht den Mut, sich selbst die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten einzugestehen. Es braucht auch den Mut sich achtsam und bewusst schmerzhaften Erfahrungen zuzuwenden, um diese zu umsorgen und Heilungen zu ermöglichen, anstatt diese Wunden zu vernachlässigen.
Empathie und Mitgefühl
Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Tanja Singer führt seit vielen Jahren ebenfalls intensive Untersuchungen zum Thema Mitgefühl durch. Sie unterscheidet allerdings genau zwischen Empathie und Mitgefühl. Empathie empfindet der Mensch in ihren Augen ganz automatisch, egal, ob wir unter Fremden oder Freunden sind. Empathie hat noch keine soziale oder moralische Dimension. Es bedeutet lediglich, dass man mit einem anderen Menschen mitschwingen kann – wir uns mit ihm freuen oder mit ihm leiden können. Es bedeutet aber noch lange nicht, dass wir uns deswegen für das Wohlempfinden eines Menschen einsetzen. Auch die Psychoanalytikerin Luise Reddemann zieht hier eine klare Unterscheidung: „Mit der Fähigkeit zur Empathie kann man einem anderen Menschen aber auch Schaden zufügen und ausnutzen.“ so Reddemann. „Ein guter Versicherungsmakler zum Beispiel fühlt sich ein und dreht den Menschen gleichzeitig unlautere Dinge an.“ Mitgefühl hingegen hat immer eine heilsame und wohlwollende Ausrichtung – entweder für uns selbst oder für andere Menschen. Ein mitfühlender Mensch überwindet das selbstzentrierte Fühlen und ist motiviert zum Wohle anderer zu denken und zu handeln.


Mitgefühl kultivieren
Wie aber können wir Mitgefühl fördern? Die Metta-Meditation ist eine jahrtausendalte buddhistische Meditationsform, ist eine der bekanntesten Übungen. Bei ihr geht es darum, ganz gezielt eine Einstellung liebevollen Wohlwollens für alles Wesen zu entwickeln. Mit „Metta“ (pali: Freundschaft, liebende Güte) ist Liebe im buddhistischen Sinne gemeint, in dem Sinne, wie es von Erich Fromm, dem deutsch-amerikanischen Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologen in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ beschrieben wurde. Und zwar als ein uneigennütziges „Verströmen“ oder „Schenken“ von freundlichen, akzeptierendem Wohlwollen ohne irgendeine Form von erotischem Begehren oder Nutzen, sondern das bedingungslos allen fühlenden Wesen inneren Frieden und Glück wünscht.
Die westliche Psychologie hat mittlerweile ebenfalls zahlreiche Übungen zur Kultivierung des Mitgefühls hervorgebracht. Die Psychotherapeutin und Neurowissenschaftlerin Tanja Singer hat sogar ein kostenloses ebook über Mitgefühl herausgebracht, dass sich jeder runterladen kann, der diese heilsamen Qualitäten entwickeln möchte. Denn: sowohl in der buddhistischen als auch in der westlichen Psychologie sind Gefühle wie Angst, Zorn oder Abhängigkeiten eine Bürde, die die Seele belasten und psychischen Leid hervorbringen und auch zu physischen Krankheiten führen können. Wenn wir unser Herz für einen anderen Menschen verschließen, so führt dies anhaltend zu Verbitterung und Groll. Entscheiden wir uns hingegen, diesen Menschen bewusst akzeptierende und liebevolle Zuwendung durch Mitgefühl entgegenzubringen, kann dies auf nachhaltige Weise körperliche und emotionale Heilung mit sich bringen.
Groll und Hass stillen den Schmerz in unserem Herz nicht, sondern sind stattdessen eine Quelle von anhaltendem Leid und Schmerz. Erwiesenermaßen entsteht aus einem Mangel an gefühlter Liebe eine unerfüllbare Sehnsucht nach Liebe und Geliebt werden. Meditationen des Mitgefühls machen das Loslassen von Groll, Abhängigkeiten und Schuld möglich und kommen der ursprünglichen, urchristlichen Idee „Liebe deinen Nächsten, sowie auch dich selbst“ sehr nahe. Diese Aufforderung ist allerdings nicht als ein moralischer Imperativ zu verstehen und bedeutet auch nicht, dass man nach ein paar Meditationen einen dauerhaften Zustand erreicht hat, in dem man für immer und ewig mit sich und der Welt in einem Zustand der vollkommenen Liebe schwebt. Vielmehr handelt es sich bei den Meditationen und Übungen, die die Kultivierung von Mitgefühl fördern, ein Ideal mit dem Ziel der emotionalen Selbstheilung von Bedrücktheit, Hass und Groll.
In den Übungen und Meditationen des Mitgefühls, egal ob sie ihren Ursprung in einer spirituellen Tradition haben oder aus einem psychotherapeutischen Umfeld kommen, werden Aversion weder abgelehnt noch geleugnet oder bekämpft, sondern achtsam wahrgenommen, angenommen und auf eine wohlwollende und akzeptierende Weise „umarmt“, so wie man ein leidendes oder verzweifeltes Baby hält. Hass, Wut und Angst sowie Verbitterung werden genauso achtsam wahrgenommen und wie eine Welle betrachtet, die kommt und geht. Die Basis dafür besteht in der bedingungslosen Annahme dessen, was ist. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um ein gleichgültiges Hinnehmen der Situation sondern eine realistische Annahme der Wirklichkeit. Denn nur so sind konstruktive Veränderungen möglich.
In unserer Gesellschaft sind wir es gewohnt, dass eine liebevolle Zuwendung unbewusst meistens an Bedingungen geknüpft, die unausgesprochen folgendermaßen lauten: „Ich liebe dich / ich mag dich, so lange du mit mir einer Meinung bist, dieses tust und jenes lässt und du mich mindestens genauso liebst wie ich dich.“ Solche Erwartungen führen meistens allerdings zu Enttäuschungen, weil niemand unsere Erwartungen langfristig so erfüllen kann. Durch die Meditationen des Mitgefühls lernen wir, wie es ist, wenn wir uns selbst und anderen Menschen uneingeschränktes Mitgefühl zu vermitteln. Durch jene Übungen, bei denen wir Mitgefühl für uns selbst entwickeln, lernen wir uns selbst uneingeschränkt zu lieben, so wie ein guter Freund es tut. Ohne Bedingungen und ohne Einschränkungen – mit all unseren Ecken und Kanten.

Selbstmitgefühl – was es ist und was es nicht ist
Selbstmitgefühl wird allerdings häufig missverstanden. Wenn wir mitfühlend mit uns selbst sind,
  • machen wir uns nichts vor und reden nichts schön, sondern wir öffnen uns uneingeschränkt für Gefühle wie Schmerz oder Wut, lassen sie da sein anstatt sie zu umgehen.
  • verfallen wir nicht in Selbstverliebtheit, sondern wenden uns selbst mit Mut und Liebe zu, besonders dann, wenn wir tiefe Formen der Verachtung erlebt haben.
  • suhlen wir uns nicht in tiefem Selbstmitleid, sondern lösen uns aus der totalen Identifikation mit Gefühlen wie Schmerz, Angst oder Wut, wenn wir mit ihnen in Kontakt treten.
  • laugt es uns nicht aus, weil wir weniger gegen uns selbst kämpfen. Wir sind präsenter im Augenblick und müssen nicht mehr ständig vor gegenwärtigen Erfahrungen fliehen.
  • sind wir keine Egoisten, sondern ganz im Gegenteil: Wenn wir Mitgefühl für uns selbst entwickeln, müssen wir uns nicht länger von den eigenen Gefühlen abschneiden, sondern können sie differenziert wahrnehmen. Wenn uns dies gelingt, werden wir die Gefühle der anderen Menschen auch automatisch besser wahrnehmen und verstehen.
  • ist es kein esoterisches Zeug, denn wir alle erwiesenermaßen mit Mitgefühl geboren. Es geht uns nur im Laufe der Zeit verloren.
     

Mitgefühl im Licht der Wissenschaft
In den letzten Jahren rückte neben der Achtsamkeit auch das Mitgefühl ins Visier der Wissenschaft. Besonders die Hirnforschung zeigt sich interessiert an den Auswirkungen des Mitgefühls. Lange Zeit galt es als zu weich und wissenschaftlich nicht fassbar. Besonders die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Tanja Singer, die das Mitgefühl und seine Auswirkungen auf neuronale Strukturen untersucht, hat herausgefunden, dass sich im Gehirn von Probanden bereits messbare Veränderungen ergeben, wenn sie an einem einwöchigen Mitgefühlstraining teilnehmen. Singer und ihr Team haben herausgefunden, dass durch das mentale Training verstärkt neuronale Systeme aktiviert werden, die auch im Kontext mit Affiliation und Belohnung aktiviert werden. Wie Untersuchungen mit Ratten gezeigt haben, ist diese Fähigkeit übrigens auch bei Tieren angelegt. Mitgefühl macht es möglich, dass wir kooperieren, miteinander leben können und uns um das große Ganze kümmern. Lassen wir dies außer Acht, wird die Welt aus den Fugen geraten. Gemeint ist damit eine ganz rudimentäre Form, nämlich ein biologisch verankertes Motivationssystem, dass wichtig für unser Überleben ist. Und zwar nicht nur für das eigene Überleben, sondern auch für das der ganzen Gesellschaft – und noch umfassender gedacht – für das der ganzen Welt.
So könnte uns Mitgefühl dabei helfen, die Probleme, die mit einer globalisierten Welt einhergehen, besser in den Griff zu bekommen. Wir alle fühlen uns immer noch viel zu wenig als Weltenbürgen, dabei sollten wir uns in einer globalisierten Welt auch für solche Dinge mitverantwortlich fühlen, die beispielsweise in China oder Indien passieren. Bestimmte Formen des Mitgefühlstraining setzt zum Beispiel dabei an, zu verstehen, dass wir alle Bürger dieser Erde sind und nicht nur Verantwortung für das eigene Wohlergehen haben sondern auch für das Ganze. Vielleicht wird die Erde dann zu einem Ort, an dem alle Menschen miteinander in Frieden leben können.


     
      Studien haben gezeigt, dass Selbstmitgefühl viele positive Wirkungen hat
  • wir üben weniger Selbstkritik
  • es werden weniger Stresshormone wie Cortisol ausgeschüttet
  • die eigene Resilienz wird gestärkt, u.a. Selbsttröstung, Selbstbestärkung, Selbstverständnis
  • es kommt zu einer Heilung von mangelnder Fürsorge durch andere in der eigenen Kindheit
      (Kristin Neff, Self-Compassion, 2009)


Mitfühlend mit sich selbst entwickeln!
Vielleicht haben Sie heute Schmerzen im Rücken oder Sie hatten einen schrecklichen Arbeitstag oder jemand hat Sie unfair beschimpft. Vielleicht fühlen Sie sich aber auch einfach unverstanden oder depressiv. Was immer Ihre Stimmung drückt: Selbstmitgefühl könnte Sie darin unterstützen, dass Sie sich wieder wohler fühlen. 
  1.  Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie ein paar Minuten ungestört sind.
  2.  Setzen Sie sich aufrecht, entspannt und möglichst bequem hin.
  3. Nehmen Sie sich dann einen Moment Zeit, um Ihre Herausforderungen, Schwierigkeiten und Ihr eigenes Leben anzuerkennen.
  4. Rufen Sie sich nun das Gefühl in Erinnerung, das Sie haben, wenn Sie mit jemand zusammen sind, für den Sie wichtig sind. Vielleicht ein guter Freund, Ihr Haustier, ein Familienmitglied oder Ihr Schutzengel. 
  5. Erinnern Sie sich nun an eine schwierige Situation und stellen Sie sich vor, dass dieses Wesen, dem Sie wichtig sind, Mitgefühl für Sie empfindet und es Ihnen gegenüber zum Ausdruck bringt. Stellen Sie sich so detailliert wie möglich seinen Gesichtsausdruck, seine Gesten, Haltung und seinen Umgang mit Ihnen vor. Empfangen Sie dieses Mitgefühl, nehmen Sie die Wärme, das Wohlwollen und die Fürsorge auf. Öffnen Sie sich dem Gefühl, verstanden und genährt zu werden. 
  6. Machen Sie sich bewusst, dass dieses Gefühl des Empfangens von Fürsorge Kreisläufe in Ihrem Gehirn beeinflusst, die dafür sorgen, dass Sie selbst auch Fürsorge geben. 
  7. Denken Sie als nächsten an einem Menschen, für den Sie ohne große Anstrengung Mitgefühl empfinden: vielleicht ein Kind, ein Tier oder ein Familienmitglied. 
  8. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn er mit der Schwierigkeit zurecht kommen müsste, was für Sie selbst schwierig ist. Lassen Sie Empfindungen von Mitgefühl Ihren Geist und Körper erfüllen. Lassen Sie es nun zu der Person strömen. Sie können sich vorstellen, dass es zum Beispiel in Form von Licht oder Energie zu ihr herüberströmt. 
  9. Richten Sie nun die gleiche Empfindung von Mitgefühl auf sich selbst. Vielleicht wollen Sie es mit folgenden Sätzen begleiten: Möge dieser Schmerz (oder diese Schwierigkeit) vorübergehen. Möge es mir besser gehen. Möge ich glücklich und zufrieden werden. Nehmen Sie ganz bewusst wahr, wie dieses Gefühl sich in jeder Zelle Ihres Körpers ausbreitet. 

Meditation des Mitgefühls
Die Metta-Meditation ist eine der bekanntesten und wirksamsten Meditationen, um Mitgefühl zu entwickeln. Regelmäßig angewandt, öffnet sie das Herz für uns selbst und andere Menschen.
  1. Suchen Sie sich einen ruhigen Platz und nehmen Sie eine bequeme Position ein. 
  2. Achten Sie darauf, dass Sie ein paar Minuten ungestört sind und richten Sie sich nun an diesem Platz ein. Es gibt nun nichts anderes zu tun, als Mitgefühl für Sie selbst und andere zu haben.
  3. Öffnen Sie nun Ihr Herz und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst. Schauen Sie über das hinaus, von dem Sie glauben, dass Sie es mögen. Wenden Sie sich Ihrem eigenen Herzen zu und wünschen Sie sich selbst etwas Gutes. Wiederholen Sie dabei stetig den Vers: Möge ich glücklich sein. Möge ich gesund sein. Möge ich sicher sein. 
  4. Weiten Sie jetzt Ihr Bewusstsein aus und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einen Menschen, der Ihnen nahe ist oder den Sie besonders lieben. Wünschen Sie ihm Gutes, während Du den obigen Vers mehrere Male wiederholst: Mögest Du glücklich sein. Mögest Du gesund sein. Mögest Du sicher sein.
  5. Dehnen Sie Ihr Mitgefühl nun auf alles aus, was draußen lebendig ist – Pflanzen, Bäume, Insekten, Tiere und Menschen. Wie Sie selbst, so wollen auch sie nicht leiden. Öffnen Sie Ihr Herz und wünschen Sie ihnen Gutes, indem Sie den Vers wiederholst: Mögest Du glücklich sein. Mögest Du gesund sein. Mögest Du sicher sein
  6. Wenn es Ihnen möglich ist, dann bringen Sie Ihr Mitgefühl nun einem Menschen entgegen, mit denen Sie Schwierigkeiten haben. Schaue über das, was Sie an ihm nicht mögen, hinaus und wenden Sie sich dem menschlichen Wesen zu, das genau wie Sie leidet, wenn es Schmerzen hat. Wünschen Sie ihm Gutes und wiederholen Sie im Stillen den Vers: Mögest Du glücklich sein. Mögest Du gesund sein. Mögest Du sicher sein
  7. Weiten Sie nun Ihr Bewusstsein noch einmal und öffnen Sie Ihr Herz und Ihre Fürsorge für alle Menschen: Mögen alle Wesen glücklich sein. Mögen alle Wesen gesund sein. Mögen alle Wesen sicher sein.
  8. Kommen Sie dann mit Ihrer Aufmerksamkeit zurück in den Raum und wenden Sie sich wieder dem Alltag zu.
Selbstmitgefühls-Quickie
Wenn Sie merken, dass Sie sich selbst verurteilen oder unzufrieden mit sich sind, dann setzen Sie sich einen Moment aufrecht hin und legen Sie eine Hand auf Ihr Herz. Schließen Sie die Augen und sagen Sie sich selbst: Möge ich in Frieden leben! Möge ich sicher sein! Möge ich beschützt sein
Buchtipps
Kirstin Neff: Selbstmitgefühl. Schritt für Schritt. Buch & 4 CDs. Arbor Verlag. 2103
Luise Reddemann und Sylvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl: Mut zur Muße statt Hektik und Burnout.

Christopher Germer und Christine Bendner: Der achtsame Weg zur Selbstliebe: Wie man sich von destruktiven Gedanken und Gefühlen befreit. Arbor Verlag 2011

Christa Spannbauer und Konstantin Wecker. Die revolutionäre Kraft des Mitgefühls. Goldmann Verlag 2013

Tanja Singer: Mitgefühl in Alltag und Forschung. Kostenloses ebook zum runterladen

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